Museumsblog
Neues aus Griechenland / News from Greece
Von März bis Mai 2023 arbeiteten Maria Gkina und Fotis Theophilou - beide Studierende der Universität Ioannina in Griechenland - für drei Monate als Trainees am Ikonen-Museum und haben mit vielen Aktivitäten einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Zum Neuen Jahr freuen wir uns über zwei informative Texte, welche die beiden verfasst haben und die sich mit Ikonen aus unserer Sammlung beschäftigen.
Maria Gkina stellt die Ikonen in unserer Sammlung vor, die eine Malersignatur tragen (oder einem Maler zugeschrieben werden können) und widmet sich dann speziell den griechischen Ikonenmalern, deren Werke in Recklinghausen vorhanden sind. Dazu zählen berühmte Künstler wie Nikolaos Tzafouros, Elias Moschos und Andreas Ritzos. Aber auch signierte Ikonen aus anderen Ländern sind in der Aufstellung erfasst, die somit einen guten Überblick über die Künstler gibt, deren Arbeiten in unserer Sammlung aktuell nachgewiesen sind.
Das besondere Interesse von Fotis Theophilou gilt den Heiligen und ihrer Verehrung. Aus diesem Grund faszinierte ihn der monumentale gemalte Jahreskalender aus Russland, der zu unseren bedeutendsten Exponaten gehört. Sein Text führt anhand mehrerer Beispiele aus Recklinghausen in das Phänomen der Kalenderikonen ein und erläutert ihre Struktur und Funktion. Beide Texte führen also in wichtige Themen der Ikonenmalerei ein.
Wir danken Maria und Fotis für ihr anhaltendes Engagement. Ihre Texte sind wichtige Beiträge zur Erschließung und Vermittlung unserer Sammlung!
Die in englischer Sprache verfassten Texte können Sie durch das Anklicken des entsprechenden Titels (s.u.) herunterladen.
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From March to May 2023, Maria Gkina and Fotis Theophilou - both students at the University of Ioannina in Greece - worked as trainees at the Icon Museum for three months and left a lasting impression with many activities. For the New Year, we are pleased to receive two informative texts that the two of them wrote and that deal with icons from our collection.
Maria Gkina introduces the icons in our collection that bear a painter's signature (or can be attributed to a painter) and then focuses specifically on the Greek icon painters whose works are present in Recklinghausen. These include famous artists such as Nikolaos Tzafouros, Elias Moschos and Andreas Ritzos. But signed icons from other countries are also included in the list, which provides a good overview of the artists whose works are in our collection as of today.
Fotis Theophilou's particular interest lies in saints and their veneration. For this reason, he was fascinated by the monumental painted annual calendar from Russia, which is one of our most important exhibits. Using several examples from Recklinghausen, his text introduces the phenomenon of calendar icons and explains their structure and function. Both texts introduce important topics in icon painting.
We thank Maria and Fotis for their continued commitment. Their texts are important contributions to the development and communication of our collection!
You can download the texts written in English by clicking on the corresponding title:
Maria Gkina, Signed Icons
Fotis Theophilou, Calendar Icon
Lutz Rickelt, 15. Januar 2024
Liturgische Silbergegenstände und ihre Dokumentation
Ein Praxisbericht von unserem Praktikanten Simon Maasmann (Münster)
Ein wichtiger Bestandteil der Arbeit in einem Museum ist die Dokumentation von Objekten, also das Zusammentragen möglichst vieler Informationen über Gegenstände in der Sammlung oder in einer Ausstellung. Angaben zu Material, Alter, Herkunftsort, Erhaltungszustand und ähnlichem sind wichtig, um später den Besucherinnen und Besuchern einen möglichst umfassenden Eindruck über einen Gegenstand geben zu können.
Bei Exponaten, die aus anorganischen Stoffen wie Metallen hergestellt wurden, ist eine eindeutige Datierung und Lokalisierung häufig besonders schwierig, da Anhaltspunkte wie eine bestimmte Legierung oder die Gestaltung eines Objektes zumeist nur Rückschlüsse auf ungefähre Zeiträume beziehungsweise Regionen zulassen. Einen Künstler oder wenigstens eine Werkstatt kann man auf diese Weise kaum bestimmen.
Hilfreich ist es dabei, dass für in Russland hergestellte Silberobjekte seit 1613 eine Stempelpflicht herrschte, um die Einhaltung eines bestimmten Silbergehalts zu gewährleisten. Man kann verschiedene Stempel unterschieden, die etwa den Feingehalt, die Herkunftsstadt, das Herstellungsjahr, den Beschaumeister, den Meister für Qualitätsgüte und den Meister beziehungsweise die Meisterwerkstätte angeben. Der Beschaumeister überprüfte dabei den Silbergehalt eines Objektes, während der „Alderman“ genannte Meister für Qualitätsgüte den handwerklichen Wert begutachtete. In vielen Fällen wurden jedoch nicht alle, sondern lediglich einige der genannten Stempel angebracht.
Im Ikonen-Museum sind die Stempel besonders bei der Dokumentation ostkirchlicher liturgischer Geräte hilfreich, die meistens aus Silber gefertigt wurden und auf denen sich – sofern sie russisch sind – auch häufig Stempel befinden.
Die abgebildeten Objekte stammen aus der bedeutenden Schenkung Jochen Zerlins, die in einem großen Umfang auch liturgische Gegenstände umfasste (Bild 1). Zu sehen sind ein Diskos, auf den die Hostie gelegt wird, darauf ein sogenannter Asteriskos (griech. „kleiner Stern“), der auf dem Diskos über die Hostie gestellt wird und den Stern über Bethlehem symbolisiert (Bild 2), ein Kelch für den eucharistischen Wein (Bild 3), ein Kommunionlöffel zur Vermischung von Brot und Wein und ein Trinkgefäß für warmes Wasser, das mit dem Wein vermischt wird (Bild 4), sowie zwei Teller (Bild 5): Einer wird zum Zerschneiden von Hostien zum Gedenken an die Muttergottes oder an die Heiligen und Verstorbenen benutzt, auf dem zweiten werden die Hostien für die Kommunion der Gemeinde zerschnitten.
All diese liturgischen Geräte konnten aufgrund ihrer gestempelten Silbermarken bestimmten Jahren im 18. und 19. Jahrhundert sowie Moskau als Herkunftsort zugewiesen werden, sind also teilweise schon über 250 Jahre alt. Darüber hinaus konnten bei einigen Gegenständen der jeweilige Meister bzw. die Meisterwerkstätte sowie der Beschaumeister und Meister für Qualitätsgüte herausgefunden werden.
Besonders viele Informationen ließen sich anhand der Silbermarken der beiden Teller, die auch ursprünglich zusammengehörten, ermitteln (Bild 6). Sie stammen aus Moskau, wie man anhand der Stempelung erkennt, die Georg im Kampf mit dem Drachen zeigt; seit 1741 war jene Darstellung das Stadtwappen Moskaus. Eine genaue Datierung ermöglicht der Stempel des Beschaumeisters, an dem sich ablesen lässt, dass die Teller 1787 hergestellt und von Andrej Titow auf ihren Silbergehalt überprüft wurden. Er war 1786 bis 1798 Beschaumeister in Moskau. Auch der „Alderman“ ist von anderen Werken bekannt: Er trägt die Initialen O. V. (О В), sein vollständiger Name ist allerdings nicht überliefert. Seine Tätigkeit ist zwischen 1777 und 1789 in Moskau nachgewiesen. Der einzige Stempel, der sich nach aktuellem Stand nicht auflösen lässt, ist ausgerechnet der des Meisters: Er zeigt die Initialen F. P. (Θ Π). Unter den für Moskau überlieferten Stempeln ist er nicht zu finden.
Simon Maasmann, 22.9.2023
Der Monat April und Ostern auf einer russischen Kalenderikone
Bilder in der Galerie unterhalb des Textes
Eines unserer bedeutendsten Exponate ist ein aus zwei Tafeln gebildeter Jahreskalender, auf dem Heilige und Feste gemäß der chronologischen Reihenfolge des Kirchenjahres in Reihen gruppiert sind. Die Tafeln stammen aus Russland und datieren in das 16. Jahrhundert. Sie zeigen in jeweils zehn Reihen die Heiligen und Feste des liturgischen Kirchenjahres. Der Beginn jeden Monats ist durch einen roten Punkt gekennzeichnet, der den Mond darstellt. Am Beginn der ersten Tafel steht der Monat September, der Anfang des Kirchenjahres. Diese Tradition geht auf das vierte Jahrhundert zurück, als der erste christliche Kaiser Konstantin der Große einen Steuerzyklus einführte, der im September begann; die entstehende christliche Kirche übernahm diese Zeitrechnung und deswegen wird bis heute am ersten September der Beginn des Kirchenjahres gefeiert.
Heute wollen wir exemplarisch auf den Monat April und aus aktuellem Anlass auf die österlichen Festtage schauen (die Bilder in der Galerie bitte anklicken zum Vergrößern). Der Monat April ist auf der rechten Tafel in der zweiten und dritten Reihe abgebildet. Die religiösen Feste des Monats April werden von den Ereignissen der Karwoche überschattet, auf die wir weiter unten zu sprechen kommen. Das erste Fest im April ist das der hl. Maria von Ägypten mit dem hl. Zosimas, der ihr wenige Stunden vor ihrem Dahinscheiden die Kommunion gibt. Diese Asketin steht exemplarisch für ein Leben in Reue und Demut. Der wichtigste Heilige im April ist jedoch Georg, der in vielen orthodoxen und katholischen Ländern auf der ganzen Welt am 23. April hochverehrt wird. Am 25. Tag des Monats findet das Fest des Evangelisten Markus statt.
Zusätzlich zu den Festen der Heiligen wird (dieses Jahr) im April Passion Christi und das Osterfest gefeiert. Da es sich bei Ostern jedoch um einen beweglichen Feiertag handelt (der also in jedem Jahr auf ein anderes Datum fällt), platzierte der Maler die Passion und Auferstehung Christi mit den vom Osterdatum abhängigen Festen (bis Pfingsten) in zwei zwischen die Monate eingeschobene Reihen. Wir schauen uns die erste dieser Reihen genauer an, die mit der am Ostersonntag gefeierten Auferstehung abschließt.
Ostern wird jedes Jahr am ersten Sonntag nach dem Vollmond gefeiert, der nach dem Frühlingsäquinoktium (also nach dem 21. März) auftritt. Das Wort Ostern (Pessach) ist hebräisch und bedeutet "Übergang". In der jüdischen Religion wird der Überquerung des Roten Meeres und der Befreiung aus der pharaonischen Sklaverei gedacht. Das Christentum feiert die Auferstehung Christi und die damit bewirkte Befreiung von Sünde und Tod. Ostern erstreckt sich chronologisch über sieben Tage (die auch Heilige Woche oder Karwoche genannt werden) und beginnt mit dem Fest der Auferweckung des Lazarus am Samstag.
Lazarus war der biblischen Überlieferung zufolge ein Freund Christi und lebte in Bethanien. Drei Tage nach seinem Ableben kam Christus zu seinem Grab und erweckte ihn von den Toten, ein Verweis auf seine eigene spätere Auferstehung. Nach diesem Tag folgt der Palmsonntag, der Tag, an dem Christus auf einer Eselin reitend in Jerusalem einzog. Die Bevölkerung begrüßte ihn triumphierend, schwenkte Palmblätter und rief: „Hosanna, gepriesen sei der Kommende“.
Es folgt die Szene der Fußwaschung: Jesus wäscht seinen Jüngern die Füße, um sie zur Demut anzuhalten. Petrus, der sich zunächst nicht von Christus waschen lassen wolte, deutet durch seine Geste an, dass dieser ihm auch das Haupt waschen solle, als Zeichen seiner Zugehörigkeit zu Christus. Eine der schönsten Szenen mit starker theologischer Symbolik ist die Szene des Letzten Abendmahls, dem letzten irdischen Mahl Jesu mit seine Jüngern. Jesus teilte den Aposteln mit, dass einer von ihnen ihn verraten wird - Judas, der bereits vorschnell nach dem Brot greift.
Nach dem Abendmahl begab sich Jesus in den Garten Gethsemane, um zu beten. Hier wurde er von Judas verraten und verhaftet. In dieser Szene wird auch Petrus dargestellt, wie er Malchus, einem der Diener des Hohepriesters, ein Ohr abschneidet. Nach seiner Festnahme wird er zu den obersten Priestern der Juden, Annas und Kaiphas, gebracht, um gerichtet zu werden. Sie schickten ihn zum römischen Statthalter Pilatus, der ihn verhörte und schließlich zur Kreuzigung verurteilte.
Die Kreuzigung fand am Freitag auf dem Hügel von Golgatha außerhalb der Mauern Jerusalems statt. Nach dem Tod Christi erteilte Pilatus die Erlaubnis, ihn vom Kreuz zu nehmen und zu begraben. Nachdem der Kreuzabnahme wurde Christus von seiner Mutter Maria und anderen Anhänger:innen beweint, sein Leichnam mit Myrrhe und anderen aromatischen Ölen gesalbt und schließlich in einem Höhlengrab bestattet.
Das wichtigste christliche Fest ist das der Auferstehung Christi. Das orthodoxe Osterbild zeigt in der Regel die sogenannte Höllenfahrt Christi, der nach dem Bericht des apokryphen Nikodemus-Evangeliums in den Hades hinabstieg, die dort wartenden Gerechten befreite und ins Paradies führte. Die Ikone zeigt Christus, der über den zerschmetterten Toren der Unterwelt steht und Adam und Eva aus ihren Gräbern zieht. Der Moment ihrer Befreiung markiert den Triumph Christi über Sünde und Tod, die durch das Vergehen der Ureltern in die Welt gekommen waren.
Das Team des Ikonen-Museums wünscht frohe Ostern!
Fotis Theophilou (Universität Ioannina), 6.4.2023
Frohe Weihnachten!
Darstellungen der Geburt Christi aus unserer Sammlung
Ikone des Monats (Mai 2022)
Die Beschneidung Christi
Griechenland, Ende 18. Jahrhundert
Eitempera auf Holz, 32,7 x 24,5 cm
Erworben durch Spenden zum 80. Geburtstag von Dr. Anneliese Schröder 2004
Inv.-Nr. 431
In diesem Monat haben wir eine Ikone ausgewählt, die sich ab nächster Woche nur für eine beschränkte Zeit in unserer Dauerausstellung befindet. Sie ersetzt dort eine syrische Ikone der Taufe Christi, die als Leihgabe in der Ausstellung „Syrien – Gegen das Vergessen“ (10. Juni bis 11. September) im Rautenstrauch-Joest-Museum in Köln zu sehen sein wird.
Die Ikone (Abb. 1) stellt ein selten gemaltes Thema dar, die Beschneidung Christi. Sie war nach dem jüdischen Gesetz am 8. Tage nach der Geburt eines männlichen Nachkommen zu vollziehen und mit der Namensgebung verbunden. Von ihr berichtet das Lukas-Evangelium (2, 21): „Als acht Tage vorüber waren und das Kind beschnitten werden sollte, gab man ihm den Namen Jesus, den der Engel genannt hatte, noch ehe das Kind im Schoß seiner Mutter empfangen wurde.“ Lukas bezieht sich auf die Verkündigung, in welcher der Erzengel Gabriel den Namen des verheißenen Kindes erstmals aussprach (Lk 1, 31): „Du wirst ein Kind empfangen, einen Sohn wirst du gebären: dem sollst du den Namen Jesus geben.“ Dem zweifelnden Joseph erschien ein Engel im Traum und sprach zu ihm: „Josef, Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria als deine Frau zu dir zu nehmen; denn das Kind, das sie erwartet, ist vom Heiligen Geist. Sie wird einen Sohn gebären; ihm sollst du den Namen Jesus geben; denn er wird sein Volk von seinen Sünden erlösen“ (Mt 1, 21–22). Traditionell wurde die Beschneidung als das erste Vergießen des Blutes Christi und somit der Beginn seines Heilswerkes gedeutet. Außerdem untermauerte sie das Dogma der vollständigen menschlichen Natur im Gottessohn. Auch wenn die Beschneidung Neugeborener im Christentum nicht mehr praktiziert wurde (an ihre Stelle trat die Taufe als Zeichen der Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft), blieb sie als Teil des Erlösungswerkes Gottes somit wichtig, zumal Christus selbst sagte: „Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben! Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen“ (Mt 5, 17).
In der orthodoxen Kirche feiert man das Fest der Beschneidung Christi am 1. Januar. Aus diesem Anlass wurden auch Festtagsikonen hergestellt, zu denen auch die Recklinghäuser Ikone gehört. In der Festtagsreihe konnte es die Darstellung Christi im Tempel vertreten, die inhaltlich verwandt ist. Ikonen mit der Beschneidung blieben allerdings immer eine seltene Ausnahme. In anderen Bereichen (Wandmalerei, illustrierte Handschriften) kommt das Thema etwas häufiger vor, meistens als Teil eines Zyklus, der entweder das Leben Christi oder das der Muttergottes zum Thema hatte. Eine der frühesten erhaltenen ostkirchlichen Darstellungen befindet sich im sogenannten Menologion von Kaiser Basileios II., das Ende des 10. oder Anfang des 11. Jahrhunderts angefertigt wurde (Abb. 2).
Auf der Ikone liegt das fest gewickelte Christuskind auf dem Altartisch im Tempel, links sitzt der Hohepriester. Er ist in das vorgeschriebene hohepriesterliche Gewand (Efod) gekleidet und trägt eine gehörnte Mitra auf dem Kopf. Die vor der Brust getragenen Edelsteine symbolisieren eigentlich die zwölf Stämme Israels, auch wenn der Ikonenmaler hier neun Steine für ausreichend hielt (möglicherweise war ihm die Symbolik nicht bekannt). Ephrem der Syrer (4. Jhd.) war der Überzeugung, dass Joseph die Beschneidung selbst durchgeführt habe, die normalerweise einem Spezialisten (Mohel) übertragen wurde. Auf manchen Ikonen ist ein solcher Beschneider zu sehen, der in Begleitung des Hohepriesters den Schnitt vollzieht. Häufiger ist es der Hohepriester persönlich, der das Messer führt. Auch auf der Recklinghäuser Ikone ist dies der Fall, ganz ungewöhnlich ist allerdings, dass der Hohepriester eine Schere ansetzt. Dass das Christuskind noch vollständig gewickelt und ein Schnitt somit unmöglich erscheint, war für den Ikonenmaler offensichtlich nicht wichtig. Ein wesentliches Charakteristikum der traditionellen Ikonenmalerei ist ja, dass sie nicht die naturalistisch-realistische Wiedergabe eines Ereignisses zum Ziel hat, sondern ihr Wesen zum Ausdruck bringen will, welches sich menschlicher Wahrnehmung und Auffassungsgabe verschließt.
In der Ostkirche wird der Hohepriester, der für die Beschneidung Christi verantwortlich war, mit Zacharias (Vater von Johannes dem Täufer) identifiziert und trägt deswegen meist einen Heiligenschein. Der Überlieferung zufolge wurde er wenig später während des Kindermordes von Bethlehem von Soldaten des Herodes getötet. Hinter Zacharias steht ein als Diakon gekleideter junger Mann mit einer Kerze, in der Mitte sitzen einige Juden, von denen einer die beiden Tafeln mit den zehn Geboten hält. Rechts stehen Maria und Joseph und blicken auf das Kind herab. Joseph weist mit seiner rechten Hand auf Maria hin. Maria, deren Kleidung aus einem blauen Gewand und einem weinroten mit drei Sternen besetzten Maphorion besteht, weist in einem darbietenden Gestus auf das Jesuskind hin. Im Hintergrund befindliche Gebäude deuten den Jerusalemer Tempel an. Am oberen Bildrand ist in griechischer Schrift der Ikonentitel zu lesen: H PERITOMH TOU C(RIS)TOU, die Beschneidung Christi.
Lutz Rickelt, 10. Mai 2022
Kiev und das Kiever Höhlenkloster
Bezüge zu Exponaten aus dem Ikonen-Museum
Das im 11. Jahrhundert gegründete Kiever Höhlenkloster (seit 1923 Museum, seit 1990 UNESCO-Weltkulturerbe) ist eines der ältesten und bedeutendsten Klöster Osteuropas und gilt als Wiege des monastischen Lebens der Ukraine und Russlands. Während des Zweiten Weltkrieges wurde die Kathedrale des Klosters 1941 von den deutschen Besatzungstruppen gesprengt. Durch den aktuellen Krieg ist es, wie unzählige andere Kulturgüter in der Ukraine, erneut von Zerstörungen bedroht. Ein trauriger Anlass, einige Verbindungen von Kiev und seinem berühmten Kloster zu Objekten in unserer Sammlung vorzustellen.
Überblick: Kiev und die Kiever Rus‘ im Mittelalter
Kiev war im Mittelalter die Hauptstadt der sogenannten „Kiever Rus‘“. Dieses Reich war von Warägern errichtet worden, Wikingern, die im 9. Jahrhundert entlang der großen Flüsse in das Gebiet des späteren Russlands eindrangen und von den einheimischen Slawen als „Rus‘“ (Ruderer) bezeichnet wurden. Die Kiever Fürsten waren in Europa gut vernetzt, in Kiev kreuzten sich bedeutende Fernhandelsrouten zwischen Orient und Okzident sowie zwischen Ostsee und dem Schwarzen Meer. Besonders mit dem byzantinischen Reich pflegten die Kiever Rus‘ enge (häufig konfliktreiche) Kontakte. Im Jahr 988 heiratete ihr Fürst Vladimir die Tochter Anna des byzantinischen Kaisers Romanos II., ließ sich taufen und erhob das Christentum zur Staatsreligion. Die Anbindung an Byzanz war wegweisend für die weitere historische Entwicklung der Rus‘ und die Herausbildung einer slawisch-orthodoxen Kultur. Byzantinische Baumeister und Künstler waren verantwortlich für den Bau und die Ausschmückung der ersten Kirchen in der Kiever Rus‘ und lernten einheimische Kräfte an; der enorme Bedarf an Ikonen, liturgischen Gerätschaften und Büchern wurde aus Byzanz gedeckt. Viele kostbare Objekte wurden von den zu Beginn überwiegend griechischen Klerikern mitgebracht und vom byzantinischen Kaiserhof oder dem Patriarchen Konstantinopels gestiftet. Letzterer ernannte zudem die Metropoliten von Kiev. Auch ideologisch knüpfte Kiev an Byzanz an: Valdimir wurde wie die die byzantinischen Kaiser als neuer David und neuer Konstantin verherrlicht. Sein Sohn Jaroslav der Weise (reg. 1019 bis 1054) ließ zentrale Bauten Kievs nach dem Vorbild Konstantinopels errichten: Wie die byzantinische Hauptstadt erhielt Kiev eine Sophienkathedrale (geweiht der Göttlichen Weisheit, der Hagia Sophia) und ein Goldenes Tor für zeremonielle Ein- und Auszüge des Fürsten. Zudem berief sich Kiev auf den Apostel Andreas, dessen Reliquien seit 357 in der Apostelkirche von Konstantinopel ruhten. Gemäß einer Anfang des 12. Jahrhunderts in der Nestorchronik überlieferten Legende segnete der Apostel den Ort, auf dem später die Stadt entstand, und errichtete am Ufer des Dnepr ein Kreuz. All diese Zeugnisse zielten drauf ab, Kiev – ebenfalls in der Tradition Konstantinopels – als „Neues Jerusalem“ zu etablieren und ihm so eine besondere Rolle in der Heilsgeschichte zuzuweisen.
Die Taufe der Rus‘
Die am 28. Juli gefeierte Taufe der Rus‘ ist ein recht neues Thema in der Ikonenmalerei, dass für die Tausendjahrfeier des Ereignisses im Jahr 1988 konzipiert wurde. Die Ikone, die uns von Heribert Heyberg aus Köln im vergangenen Jahr geschenkt wurde, hat höchstwahrscheinlich der Archimandrit Zinon aus dem Höhlenkloster von Pečory bei Pskov gemalt (Abb. 1). Im Vordergrund wird die von Vladimir befohlene Massentaufe des Volkes im Dnepr vollzogen. Im Hintergrund steht vor einer Kirche der Apostel Andreas mit dem Kreuz, das er auf einem Hügel am Dneprufer aufgestellt hat. Flankiert wird er von vom hl. Fürsten Vladimir und seiner Großmutter, der hl. Fürstin Olga (die sich bereits 955 hatte taufen lassen, und zwar auf den Namen Helena). Beide treten an die Stelle von Konstantin und seiner Mutter Helena, die in der ostkirchlichen Kunst häufig links und rechts des Kreuzes Christi dargestellt werden. Bei den beiden nimbierten Heiligen unterhalb Vladimirs handelt es sich um die Slawenapostel Kyrill und Method, ihnen gegenüber steht mit Michael von Kiev der erste Metropolit der Stadt. Am rechten Bildrand befinden sich außerdem Boris und Gleb, die ersten Heiligen, die auf dem Gebiet der Kiever Rus‘ kanonisiert wurden (ohne Zustimmung Konstantinopels). Zu ihren Füßen sitzt der Mönch Nestor als Chronist des Ereignisses. Nestor gehörte zur Möchsgemeinschaft des Kiever Höhlenklosters, die ihm (wahrscheinlich fälschlich) zugeschriebene und nach ihm benannte „Erzählung der vergangenen Jahre“ ist eine der wichtigsten Schriftquellen für die Geschichte der Kiever Rus‘.
Die „Muttergottes vom (Kiever) Höhlenkloster“ (Pečerskaja)
Das berühmte Kiever Höhlenkloster wurde der Überlieferung zufolge im Jahr 1051 von den beiden Heiligen Antonij (Abb. 2) und Feodosij gegründet. Seinen Namen hat es von den weitläufigen unterirdischen Höhlen, in denen die Mönche lebten. Es entwickelte sich innerhalb weniger Jahre zum bedeutendsten und einflussreichsten Zentrum monastischen Lebens in den Gebieten der heutigen Ukraine und Russlands. Von der Ukraine wird es als Wahrzeichen nationaler Eigenständigkeit gesehen. Die russische Seite vereinnahmt das Kloster dagegen (auch) als Symbol für die Zugehörigkeit der Ukraine zu Russland, weil man sich als alleinige Bewahrer der Traditionen der orthodoxen Rus' sieht. Gemeinsame Wurzeln werden paradoxerweise zu etwas Trennendem.
Zwischen 1075 und 1077 wurde die Hauptkirche des Klosters errichtet, die Mariä-Himmelfahrts-Kathedrale, und in den Jahren 1082 bis 1089 mit Mosaiken und Fresken ausgestattet. Bau und Ausschmückung lagen in den Händen byzantinischer Baumeister und Künstler: In der Apsis wurde die thronende Muttergottes mit Kind dargestellt, wie es der byzantinischen Tradition spätestens seit dem Ende des Bilderstreits entsprach. Unter den Mönchen, die bei den Arbeiten halfen, war auch der hl. Alimpij, der von den Griechen die Technik des Ikonenmalens erlernte und es zu großer Meisterschaft gebracht haben soll. Ihm schrieb man später die Schaffung einer berühmten Ikone zu, die sich auf das Apsismosaik der Kathedrale bezieht und als „Muttergottes vom (Kiever) Höhlenkloster“ bekannt ist. Sie wird heute in der Tretjakov-Galerie in Moskau verwahrt und zeigt die thronende Muttergottes mit dem Kind auf dem Schoss, das seine Arme zu beiden Seiten segnend ausgestreckt hat (Abb. 3). Zu ihren Seiten stehen Antonij und Feodosij, beide mit geöffneten Schriftrollen in den Händen. Der Überlieferung nach wurde die von Alimpij gemalte Ikone 1288 zu dem erblindeten Fürsten Roman Michailovič nach Brjansk (nordöstlich von Kiev) geschickt und stellte sein Augenlicht wieder her. Am Ort der Heilung ließ der Fürst ein Kloster errichten, wo sie fortan verehrt wurde. Wahrscheinlich wurde die Ikone aber erst gegen Ende des 13. Jahrhunderts gemalt und mit einer Legende ausgestattet, die ihr hohes Alter und ihre Wunderkraft belegte. Ihrer hohen Verehrung tat dies keinen Abbruch, wie die zahlreichen in der Ukraine und in Russland angefertigten Kopien bezeugen. Auf ihnen werden die Gründer des Höhlenklosters manchmal durch andere Heilige ersetzt und weitere Figuren hinzugefügt. Dies ist auch der Fall auf einer fein gemalten Ikone des Ikonen-Museums aus dem 19. Jahrhundert (Abb. 4). Neben der thronenden Muttergottes mit Kind stehen hier der hl. Vladimir von Kiev und seine Mutter Olga. Zu ihren Füßen knien zwei heilige Mönche, Aleksandr Oševenskij (gest. 1479) und Ioann.
Die Ikone „Entschlafen der Muttergottes vom Kiever Höhlenkloster“
In der Mariä-Himmelfahrts-Kathedrale des Höhlenklosters befand sich eine weitere hochverehrte Ikone, die mit einer ihr hohes Alter bescheinigenden Legende aufwarten konnte: Sie soll von den griechischen Baumeistern der Kirche aus Konstantinopel mitgebracht worden sein. Sie berichteten, dass ihnen dort die Muttergottes in der Blachernenkirche (der wichtigsten Muttergotteskirche in der byzantinischen Hauptstadt) erschienen sei und die Ikone übergeben habe. Sie wurde über der Königstür der Ikonostase befestigt, war querformatig und verhältnismäßig klein (ca. 30 x 40 cm). Da die Ikone seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs verschollen ist, lässt sich nicht mehr klären, ob sie tatsächlich aus Konstantinopel stammte und so alt war, wie ihre Legende angibt – zumal die Kathedrale 1484 und 1718 abbrannte und im 18. Jahrhundert im Stil des ukrainischen Barocks wieder aufgebaut wurde. Die barbarische Sprengung der Kathedrale durch deutsche Besatzer im November 1941 (Abb. 5) hat die Ikone wohl noch überlebt und wurde wahrscheinlich mit anderen Raubgütern 1943 abtransportiert. Vermutlich verbrannte sie zusammen mit diesen Kunstschätzen im Februar 1945 (vielleicht auch schon 1944) in Ostpreußen. Die noch stehenden Reste der Kathedrale wurden zunächst gesichert, erst in den Jahren 1998 bis 2000 erfolgte der Wiederaufbau.
Kopien dieser Ikone sind sehr selten (Abb. 6), manchmal trifft man auf sie als Teil einer anderen Darstellung. Auf einer Ikone unserer Sammlung mit den hll. Tierpatronen Modestos, Blasios, Floros und Lauros beten die vier Heiligen eine Ikone an, die sich über ihren Köpfen befindet (Abb. 7 und 8). Dass es sich um die fragliche Ikone aus dem Höhlenkloster handelt, ist am Querformat und einem weiteren charakteristischen Detail zu erkennen: Im Vordergrund befindet sich links von der Mitte ein überdimensioniertes geschlossenes Evangelienbuch, das an eine Tür erinnert. Auf der originalen Ikone verbargen sich dahinter Reliquien der sieben Märtyrer von Ephesus, die beim Bau der Kirche auch in ihre Fundamente eingemauert worden waren. Auch eine wahrscheinlich als Pilgerandenken hergestellte Holzschnitzarbeit zeigt die Ikone in vereinfachter Form über der Kathedrale schwebend, flankiert von den beiden Klostergründern (Abb. 9).
Abbildungen
Abb. 1:
Archimandrit Zinon (zugeschr.)
Die Taufe der Rus‘
Russland, nach 1988
Eitempera auf Holz, 52,7 x 35,6 cm
Schenkung Heribert Heyberg 2021
Ikonen-Museum Recklinghausen, Inv. Nr. 4381
Abb. 2:
Hl. Antonij vom Kiever Höhlenkloster
Berg Athos (russische Einsiedelei Hl. Nikolaus vom Weißen See), um 1900
Eitempera auf Holz, 35,5 x 29,0 cm
Schenkung Olaf Muradin 2013
Ikonen-Museum Recklinghausen, Inv.-Nr. 3764
Abb. 3:
Muttergottes vom Kiever Höhlenkloster mit den h. Antonij und Feodosij
Ukraine (Kiev), Ende 13. Jahrhundert
Eitempera auf Holz, 67,0 x 42,0 cm
Moskau, Tretjakov-Galerie (Inv.-Nr. 12732)
Bildnachweis: WikiCommons
Abb. 4:
Muttergottes vom Kiever Höhlenkloster (Pečerskaja) mit beistehenden Heiligen
Russland (Palech oder Choluj?), 19. Jahrhundert
Eitempera auf Holz, 27,0 cm x 22,0 cm
Erworben 1955 aus der Sammlung Dr. Heinrich Wendt
Ikonen-Museum Recklinghausen, Inv. Nr. 32
Abb. 5
Zerstörte Kathedrale des Kiever Höhlenklosters 1943
Bundesarchiv, Bild 146-2005-0070, Kiew, Lavra
Bildnachweis: WikiCommons
Abb. 6
Entschlafen der Muttergottes vom Kiever Höhlenkloster
Ukraine (Kiev), 2. Hälfte 18. Jahrhundert
Eitempera auf Holz, 18,7 x 31,7 cm
Privatbesitz
Bildnachweis: Hermeneia 1/1997, S. 5 (Ivan Bentchev)
Abb. 7, 8 (Ausschnitt):
Vier heilige Tierpatrone
Ukraine (Kiev), um 1700, mit späteren Stuckverzierungen
Eitempera auf Holz, 53,2 x 33,9 cm
Schenkung Dr. Wilhelm und Helmtrud Fey 2008
Ikonen-Museum Recklinghausen, Inv. Nr. 1177
Abb. 9:
Pilgerandenken aus Kiev
Ukraine (Kiev), um 1900
Holzschnitzerei, Glas, Metallfolie, 14,7 x 9,4 cm
Geschenk 1984
Ikonen-Museum Recklinghausen, Inv.-Nr. 905
Lutz Rickelt, 4. April 2022
Ikone des Monats (Februar 2022)
Darstellung Christi im Tempel (mit Nebenszenen)
Russland, Mitte 17. Jahrhundert
Eitempera auf Holz, 31,0 x 27,0 cm
Erworben 1992 mit einem Zuschuss des Landes NRW
Inv.-Nr. 904
Am vierzigsten Tag nach Weihnachten wird die Darstellung Christi im Tempel gefeiert, im Westen auch als Mariä Reinigung (Purificatio) bekannt. Im Osten wird das Fest als „Begegnung des Herrn“ bezeichnet, was sich auf das Zusammentreffen mit dem Priester Symeon bezieht (dieses wiederum wurde als Aufeinandertreffen des Alten mit dem Neuen Testament gedeutet). Vierzig Tage nach der Geburt eines Kindes wurde es im alten Israel im Tempel Gott geweiht („dargestellt“), außerdem musste die Mutter ein Reinigungsopfer vollziehen. Als der Priester Symeon das Christuskind in Empfang nahm, erkannte er in ihm den prophezeiten Erlöser, ebenso wie die im Tempel lebende Prophetin Hanna (Lk 2,22–39).
Das Fest der Darbringung im Tempel ist schon für das Ende des 4. Jahrhunderts für Jerusalem bezeugt und wurde im 6. Jahrhundert auch in Konstantinopel eingeführt. Darstellungen in der Kunst sind ab dem 5. Jahrhundert erhalten, zuerst als Mosaik auf dem Triumphbogen von Santa Maria Maggiore in Rom, wo das Fest aber erst Anfang des 7. Jahrhunderts offiziell eingeführt wurde. Die wesentlichen Elemente wurden im Laufe der Jahrhundert nur wenig verändert, in aller Regel handelt es sich um eine symmetrische Komposition mit Joseph, Maria, Symeon und Hanna. Diese traditionelle Szene der Darbringung ist im Mittelfeld der Ikone gemalt: Vor einem von einem Ziborium überdachten Altar steht Maria, die das Kind bereits Symeon überreicht hat. Hinter ihr folgt Joseph mit zwei Täubchen für das Reinigungsopfer auf seinen verhüllten Händen. Ein Engel fliegt von hinten auf ihn zu, um ihm die göttliche Herkunft des Kindes verstehen zu geben, während hinter Symeon die vierundachtzigjährige Prophetin Hanna mit erhobenem Zeigefinger auf das Kind weist, in dem auch sie den erwarteten Erlöser erkennt. Sie hält außerdem eine Schriftrolle, das Attribut der Propheten.
Nur auf sehr wenigen und ausschließlich auf russischen Ikonen ist diese Szene durch andere mit ihr verbundene Darstellungen erweitert. Sie haben die Prophezeiungen des Symeon und des Jesaja zum Inhalt. Links unten ist Jesaja zu sehen, der auf eine große Schriftrolle schreibt, denn er hatte vorausgesagt, dass der Messias von einer Jungfrau geboren werde (Jes 7,14). Rechts unten ist Symeon noch einmal wiedergegeben, wie er in einem aufgeschlagenen Kodex schreibt. Einer Legende zufolge gehört Symeon zu den siebzig Übersetzern der Bibel von der jüdischen in die griechische Sprache (Septuaginta). Da er aber an der Jungfrauengeburt zweifelte, schrieb er deshalb in seiner Übersetzung statt „Jungfrau“ lediglich „Frau“. Der Heilige Geist verkündete ihm daraufhin, dass er nicht sterben werde, bevor er Christus, den Messias, gesehen habe. Ein Engel beugt sich über seine Schulter und weist ihn auf das zentrale Geschehen hin, wo sich diese Prophezeiung erfüllt.
Unten in der Mitte erhebt sich aus einem roten Höllenrachen eine Gruppe von Menschen, in einen zweiten stürzen andere hinein. Dies bezieht sich auf die Worte Symeons: „Siehe, dieser wird zum Fall und Aufstehen vieler in Israel” (Lk 2,34). Die folgende Prophezeiung an die Mutter Maria „und auch durch deine Seele wird ein Schwert dringen” (Lk 2,35) wird dadurch veranschaulicht, dass ein Engel auf die in einem Turm links oben mit dem Christuskind sitzende Muttergottes zufliegt und ihr die Zeichen der Passion zeigt. In der rechten oberen Ecke sieht man einen schwarzen Dämon auf dem Dach eines Palastes, der wohl jene heidnischen Götzenbilder darstellen soll, die auf anderen Ikonen dieser Art von den Tempeln stürzen, wie es Jesaja prophezeit hatte (Jes 19,1). Aus dem Mund des Dämons entspringt ein bis in die Hölle hinabreichendes Schriftband. Die wenigen lesbaren Worte scheinen sich auf die Worte Symeons aus Lk 2,34 zu beziehen.
Das Kolorit der fein gemalten Ikone ist auf verschiedenen Rottönen aufgebaut – Kirschrot, Zinnoberrot und Rosa – was charakteristisch für die Mitte des 17. Jahrhunderts ist. Diese warmen Farben harmonieren gut mit dem dunklen Grün und Blau, das als Gegengewicht eingesetzt ist. Der erhöhte Rand, der außen eine weitere Kante aufweist, ist bis auf den Kreidegrund freigelegt worden.
(nach: Dr. Eva-Haustein-Bartsch, Zur Ikonographie einer Ikone der „Darstellung Christi im Tempel“ mit Nebenszenen. Hermeneia 4/1993, S. 199–205)
Lutz Rickelt, 15. Februar 2022
Ikonen des Monats (Januar 2022)
Eine neue Sammlung im Ikonen-Museum
Anstelle einer einzelnen Ikone zeigen wir Ihnen heute einige Ikonen aus einer Privatsammlung, die am Ende des vergangenen Jahres als Dauerleihgabe in unser Haus kam. Denn jede Museumssammlung lebt davon, dass sie kontinuierlich durch neue Objekte sinnvoll ergänzt und bereichert wird. Das Ikonen-Museum hat in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten immer wieder bedeutende Privatkollektionen in seinen Bestand integrieren können – eine der bedeutendsten Zugänge war die Schenkung Dr. Reiner Zerlins im Jahr 2019, zu der vor kurzem der Katalog erschienen ist. Die neue Sammlung umfasst 92 Ikonen, die mit einer Ausnahme aus Russland stammen und überwiegend in das 17. bis 19. Jahrhundert datiert werden können. Neben ihrer thematischen Vielfalt sind die meisten Ikonen gut bis sehr gut erhalten, so dass verhältnismäßig wenige restauratorische Arbeiten erforderlich sein werden. Außerdem sind viele interessante und seltene Motive vertreten, die im Ikonen-Museum bisher nicht vorhanden waren. Andere Ikonen wiederum zeichnen sich durch eine hohe künstlerische Qualität aus. Diese wichtige Bereicherung für das Ikonen-Museum sei am Beispiel von vier Muttergottes-Ikonen ganz kurz vorgestellt.
Muttergottes „Nicht verbrennender Dornbusch“
Russland, um 1800
Eitempera auf Holz, 53,7 x 43,0 cm
Inv.-Nr. 9600
Schon von den Kirchenvätern wurde die Muttergottes mit dem Dornbusch verglichen, aus dem Gott auf dem Berg Horeb zu Mose sprach. Der Dornbusch brennt zwar, doch verbrennt er nicht. Die Ikone setzt die typologische Interpretation dieses Ereignisses ins Bild. In ihr hat sich das Feuer, welches Gott ist, niedergelassen. Doch bleibt sie ebenso wie der Busch, unversehrt: Das Motiv verdeutlicht die Jungfräulichkeit der Gottesmutter. Auf russischen Ikonen wird dieser Vergleich in zahlreichen Details und kleinen Szenen ins Bild gesetzt, deren Details Sie in einem früheren Blogbeitrag nachlesen können. Die großformatige Ikone beeindruckt durch ihre hohe malerische Qualität und die intensive Wirkung ihrer Farben.
Die "feurige" Muttergottes (Ognevidnaja)
Russland, 19. Jahrhundert
Eitempera auf Holz, 31,0 x 26,5 cm
Inv.-Nr. 9680
Die Variante der Muttergottes Ognevidnaja war im Ikonen-Museum bisher nicht vorhanden. Über die Hintergründe ihrer Entstehung ist wenig bekannt, sie tritt erstmals im 18. Jahrhundert in Erscheinung. Wahrscheinlich geht sie auf den typologischen Vergleich Marias mit dem brennenden Dornbusch zurück. In liturgischen Gesängen zur Verklärung Christi wird dieser als „Feuer, das den Körper nicht verbrennt“ bezeichnet, und nicht zufällig sind die auf den Logos (Christus) bezogene Göttliche Weisheit und einige Darstellungen von Christus „das Gütige Schweigen“ feuerrot gemalt. Auch die Muttergottes, die den Gottessohn in sich trug, war angefüllt mit seinem göttlichen Feuer – der brennende Busch, der nicht verzehrt wird. Die Feuer-Symbolik findet sich auch in anderen Verherrlichungen der Muttergottes, z. B. als „brennender Thron des Allmächtigen“ im Akathistos-Hymnus.
Muttergottes von Šuja
Russland, Ende 17./Anfang 18. Jahrhundert
Eitempera auf Holz, 32,0 x 28,2 cm
Inv.-Nr. 9634
Der Legende nach entstand das Motiv, als die Stadt Šuja im Gebiet von Vladimir 1654 von der Pest heimgesucht wurde. Die Bevölkerung beschloss, für die örtliche Kirche der Muttergottes von Smolensk eine Ikone malen zu lassen, wobei sich der Maler an diesem ikonographischen Typus orientierte. Doch auf wundersame Weise veränderte das Christuskind während des Malvorganges seine Haltung zu der auf der Ikone zu sehenden: Charakteristisch ist das hochgezogene rechte Bein, das auf dieser Ikone nur beim zweiten Hinsehen zu erkennen ist (unterhalb des erhobenen rechten Arms). Nach ihrer Fertigstellung endete die Pest, und auch in der Folge ereigneten sich Wunderheilungen vor der Ikone. 1838 soll sie die Stadt von der Cholera befreit haben. Es handelt sich um die erste Ikone dieses Themas in unserer Sammlung.
Muttergottes „Erweichung der harten Herzen“
Russland, 19. Jahrhundert
Eitempera auf Holz, 36,0 x 30,5 cm
Inv.-Nr. 9679
Die Ikone zeigt die Muttergottes, deren Herz von sieben Schwertern durchbohrt wird (vier links, drei rechts). Das Thema - die Muttergottes "der sieben Schmerzen" - wurde erst im 19. Jahrhundert in Russland beliebt und geht auf die katholische Tradition der sieben Schmerzen Mariens zurück, die mit der Passion verbunden sind. Ausgangspunkt war die Prophezeiung des Symeon bei der Darbringung Christi im Tempel gegenüber Maria: „Deine Seele wird ein Schwert durchdringen. So sollen die Gedanken vieler Herzen offenbar werden“ (Lk 2:35). Der Titel links neben dem Kopf der Muttergottes verrät allerdings, dass auf dieser Ikone die Muttergottes „Erweicherin der harten Herzen“ gemeint ist, eine leicht abgewandelte Variante des Themas der sieben Schmerzen. Tatsächlich würde man bei der „Erweichung“ jeweils drei Schwerter auf beiden Seiten und das siebtes von unten kommend erwarten. Wahrscheinlich war sich der Maler dieser ikonographischen Feinheit nicht bewusst. Auch dieses Motiv gelangte mit dieser Ikone zum ersten Mal in unseren Bestand.
Lutz Rickelt, 18. Januar 2022
Ikone des Monats (Dezember 2021)
Heilige Barbara mit zwölf Szenen aus ihrem Leben
Zentralrussland, 2. Hälfte 19. Jahrhundert
Eitempera auf Holz, 35,5 x 31,0 cm
Erworben 2015 mithilfe der Spende eine EIKON-Mitglieds
Inv.-Nr. 3953
Die hl. Barbara kennen wir in Recklinghausen vor allem als Patronin des Bergbaus. Ihr Kult gelangte mit polnischen Bergarbeitern um 1900 ins Ruhrgebiet, wo sie zur überkonfessionell verehrten Identifikationsfigur der Bergleute avancierte. Der „Barbaratag“ am 4. Dezember wird hier bis heute besonders feierlich begangen.
Die Gestalt der Barbara taucht verhältnismäßig spät in der Überlieferung auf, ihre Verehrung ist erstmals im 7. Jahrhundert bezeugt. Eine zusammenhängende „Barbaralegende“ wurde erst im 10. Jahrhundert durch den bekannten byzantinischen Hagiographen Symeon Metaphrastes erstellt. Es wird daher angenommen, dass es sich bei Barbara um eine fiktive Figur ohne historische Basis handelt. Die verschiedenen Varianten ihrer Heiligenlegende unterscheiden sich zudem stark in einzelnen Motiven und Versatzstücken.
Der geläufigsten Tradition nach lebte Barbara zur Zeit des Kaisers Maximian (305 – 311) in Nikomedien (Heute İzmit im Nordwesten der Türkei). Ihr wohlhabender Vater Dioskuros sperrte sie in einen Turm ein, um die Jungfräulichkeit seiner Tochter zu schützen, die von außerordentlicher Schönheit war (ein Motiv aus der antiken Literatur, welches z.B. im Danae-Mythos auftaucht und auch im bekannten Märchen von Rapunzel wiederkehrt). In der Gefangenschaft bekehrte Barbara sich zum Christentum, was sie offenbarte, als ihr Vater ein Badehaus errichten ließ: Sie ließ drei statt zwei Fenster als Zeichen der Dreifaltigkeit einbauen und zeichnete ein Kreuzzeichen in den feuchten Putz der Wände. Der erzürnte Dioskuros verfolgte sie in die Berge, wo sie von einem sich wundersam öffnenden Felsen verborgen wurde. Dennoch fiel sie ihrem Vater in die Hände, der sie dem römischen Statthalter übergab. Barbara wurde gefoltert und schließlich von Dioskuros persönlich enthauptet. Zur Strafe wurden er und der Statthalter vom Blitz erschlagen.
Die Legende wird auf den Randfeldern der Ikone erzählt, wobei jedes Einzelbild von einer Inschrift erläutert wird:
1. Reihe von links nach rechts:
Die hl. Barbara auf einem Turm erkennt Gott als den Schöpfer.
Sie wird von einem Presbyter heimlich im christlichen Glauben unterrichtet und getauft.
Ihr Vater lässt ein Bad mit zwei Fenstern bauen, sie fügt ein drittes hinzu.
Sie zeichnet mit dem Finger ein Kreuz und flieht vor ihrem Vater.
2. Reihe:
Sie versteckt sich vor ihrem Vater, der sie mit dem Schwert erschlagen will, in einem Berg.
Dioskuros bringt Barbara zum Statthalter und klagt sie an.
3. Reihe:
Der Statthalter lässt sie mit Ochsensehnen schlagen.
Er wirft sie ins Gefängnis, wo ihr um Mitternacht Christus erscheint und ihre Wunden heilt.
4. Reihe:
Barbara wird vor einen zweiten Richter geführt, rühmt Christus und stürzt Idole um.
Der Statthalter lässt sie an einen Baum hängen und mit Fackeln brennen.
Er lässt sie nackt vorführen.
Er verurteilt sie zur Enthauptung mit dem Schwert, und Dioskuros schlägt seiner Tochter eigenhändig den Kopf ab.
Im zentralen Bildfeld ist die als Großmärtyrerin bezeichnete Barbara als Halbfigur wiedergegeben. In byzantinischer Zeit wurde sie mit langem Gewand (Tunika) und Mantel dargestellt. Spätere Ikonen zeigen sie oft als gekrönte Fürstin, wie es auch hier der Fall ist. In der linken Hand hält sie einen eucharistischen Kelch als Attribut, was auf ihr Patronat für Sterbende zurückgeht: Sie betete vor ihrem Martyrium, dass alle Menschen, die sie um Hilfe bitten, vor einem plötzlichen Tod ohne Beichte und Kommunion errettet werden. In Russland gelten daher diejenigen Personen, die am Gedenktag der hl. Barbara die Kommunion erhalten, als geschützt vor dieser Gefahr.
Das Patronat des Bergbaus leitete sich ab aus ihrem (zweitweise) sicheren Versteck im Berg vor ihrem Vater. Da dieser durch einen Blitz (Feuer vom Himmel) erschlagen wurden, ist sie auch Patronin der Artillerie (in Russland auch der Raketentruppen) und zudem – Turm, Badbau – der Architekten, Steinmetze und Maurer. Im Westen zählt sie zu den vierzehn Nothelfern und besitzt noch manch andere „Zuständigkeit“. Ihre Reliquien befinden sich in der Vladimir-Kirche von Kiev, allerdings ist unklar, auf welchem Weg und wann genau sie dorthin kamen. Russischer Tradition zufolge gehörten sie zur Mitgift der byzantinischen Prinzessin Barbara Komnena, die 1104 den russischen Großfürsten Swjatopolk II. (1093 – 1113) geheiratet habe. Diese Barbara soll eine Tochter des byzantinischen Kaisers Alexios I. Komnenos (1081 – 1118) gewesen sein; da sie aber in keiner byzantinischen Quelle über diesen allgemein gut dokumentierten Herrscher oder seine Familie auftaucht, dürfte auch diese Barbara eine fiktive Gestalt sein.
Lutz Rickelt, 6. Dezember 2021
Im Museum (II)
Frischer Wind im Eingangsbereich…
Das Ikonen-Museum Recklinghausen präsentiert seit Jahrzehnten seine Dauerausstellung nach thematischen Gesichtspunkten.
Beginnen wir ganz oben im Haus… Im zweiten Obergeschoss befindet sich seit 1976 die koptische Sammlung des Museums mit christlichen Werken aus Ägypten der spätantiken und frühchristlichen Zeit. Die erste Etage des Hauses führt den Besucher zum einen in die bunte Welt der Heiligen und ihre Darstellung auf Ikonen aus verschiedenen geographischen Zentren christlich-orthodoxen Glaubens quer durch die Jahrhunderte, zum anderen werden Ikonen präsentiert, welche die ostkirchlichen Festtage verbildlichen – die zum Teil großformatigen Ikonen beeindrucken durch ihre vielen Figuren und erstaunlichen Details. Im Erdgeschoss befinden sich im vom Eingang aus linken Raum Ikonen mit Darstellungen Christi und der Muttergottes, der Engel, Dreifaltigkeit und Deesis, also Ikonen mit zentralen Themen der Ikonenmalerei.
Begrüßt wird der Besucher am Empfang und dem daran direkt anschließenden Ausstellungsbereich, der die Ikone im liturgischen Zusammenhang erklärt anhand der Rolle der Ikonostase (Bilderwand) sowie anderer Objekte zum Thema „Liturgie und Ikone“. Highlight und gleichzeitig wohl bedeutendstes Objekt des Museums ist die hier aufgestellte, zweiteilige Ikone eines russischen Jahreskalenders aus dem 16. Jahrhundert, der Heilige und Feste des gesamten Kirchenjahres auf sich vereint und durch seinen Figurenreichtum geradezu zum Betrachten und Entdecken einlädt!
Seit Kurzem präsentiert sich dieser erste Raum in ganz neuem Licht. Das Thema „Ikone und Liturgie“ mit einem vertiefenden Blick auf die Ikonostase ist im Grunde erhalten geblieben. Doch ist die Gestaltung moderner, einladender, offener… Schaut der Besucher beim Eintreten in das Ikonen-Museum nach rechts, so blickt er, geleitet von einer längs gestellten, beleuchteten Sockelvitrine direkt auf den beeindruckenden Jahreskalender. Die neue Vitrine ersetzt vier quer gestellte, niedrige Tischvitrinen, in denen in der Vergangenheit verschiedene Exponate (u.a. Metallikonen) ohne Beleuchtung gezeigt wurden. Als Ergänzung zum Thema „Ikone und Liturgie“ werden dort nun filigrane Tabletki („Täfelchen“) präsentiert (u.a. aus der Schenkung von Dr. Reiner Zerlin), welche in den orthodoxen Kirchen vor der Königstür, der mittleren Tür der Ikonostase, zur Verehrung auf ein Pult gelegt wurden. An der Wand hinter der Vitrine befindet sich eine neu gestaltete Erklärungstafel zum Thema Ikonostase in großer und übersichtlicher Form, auf einem Wandbildschirm zeigt eine digitale Bilderschau begleitend historische Ikonostasen aus verschiedenen orthodoxen Ländern. Apropos Beleuchtung: Auch das Bischofsgewand erhielt eine neue Beleuchtung und kommt nun stärker zur Geltung als zuvor. Die griechische Ikonostase wurde mit Ikonen bestückt, um den funktionalen Kontext besser verständlich zu machen. Andere Ikonen wurden neu gehängt… Es gibt etliches zu entdecken!
Ein kleiner Bereich gegenüber der Kasse ist nun den Neuzugängen des Museums gewidmet. Eine Änderung im Ausstellungskonzept, die einen Blick auf Objekte gewährt, die oftmals vom Besucher unbemerkt an den Wänden des Museums zu hängen kommen oder möglicherweise direkt in den Museumsdepots verschwinden, um dann bestenfalls bei der nächsten Ausstellung präsentiert werden zu können, denn wie jedes Museum kann auch bei uns nur eine Auswahl der nunmehr fast 4000 Objekte präsentiert werden, die das Haus beherbergt.
Die Umgestaltung wird in den kommenden Monaten in den übrigen Räumen fortgesetzt, was mit zeitaufwendigen Vorbereitungen wie der Herstellung von maßgefertigten Hängungen, Vitrinen und Stützen verbunden ist. Der Eingangsbereich ist schon mal sehr gelungen und lädt ein zu einer Entdeckungsreise in die Welt der Ikonen. Besuchen Sie uns!
Ana Faye Bachmann 3. November 2021
Ikone des Monats (November 2021)
Allerheiligen
Griechenland,
2. Hälfte 17. Jahrhundert
Eitempera auf Holz, 36,5 x 28,5 cm
Erworben 1959 (Inv.-Nr. 350)
Am ersten November begehen die westlichen Kirchen das Fest Allerheiligen. Auch wenn der Feiertag in der Ostkirche ein anderer ist, stellen wir Ihnen aus Anlass der westlichen Feier die Ikonographie dieses Festes vor.
In der katholischen Kirche hat der Gedenktag für alle Heiligen seinen Ursprung in der Umwandlung des Pantheons (allen Göttern geweiht) von Rom in eine Kirche: Nachdem der oströmische Kaiser Phokas das Pantheon der römischen Kirche geschenkt hatte, wurde es von Papst Bonifatius IV. im Jahr 609 oder 610 der Muttergottes und den Märtyrern geweiht (Sancta Maria ad Martyres). Das Fest zu Ehren aller Märtyrer fand zunächst am ersten Freitag nach Ostern statt, später wurde es auf den ersten November verlegt. In der Ostkirche gab es bereits seit Anfang des 4. Jahrhunderts Allerheiligenfeste, die am ersten Sonntag nach Pfingsten gefeiert wurden. Dieses Datum wird bis heute beibehalten. Demzufolge heißt das Fest „Der Sonntag aller Heiligen“.
Auf nachbyzantinischen griechischen Ikonen ist das zentrale Thema in Form eines Kreises umgesetzt (Abb. 1): Christus thront in der Mitte in einer goldenen Aureole. Er hält ein geschlossenen Evangelium in der Hand. Auf vielen Ikonen ist es aufgeschlagen und zeigt den Text von Mt 25,34: „Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, empfangt das Reich als Erbe, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist.“ Dieser Satz stammt aus der Ankündigung des Jüngsten Gerichts. Christus wird flankiert von der Muttergottes und Johannes dem Täufer als Fürbitter. Ein konzentrischer Kreis umschließt Engel und Heilige aller Kategorien: In der obersten Reihe Engel, darunter Vorväter und Propheten, es folgen Apostel und heilige Bischöfe. In der vorletzten Reihe befinden sich links Märtyrer und rechts Mönchsheilige, während die letzte Reihe weiblichen Heiligen gehört: Links heilige Fürstinnen und eine Märtyrerin, rechts die Asketin Maria von Ägypten und mehrere Nonnen. Unten in der Mitte ist der für die Wiederkunft Christi bereitete Thron aufgestellt (hetoimasia), zu dessen Seiten sich Adam und Eva verehrend niedergeworfen haben.
In den oberen Ecken befinden sich links ist der Prophet Daniel und rechts König Salomon. Beide halten eine Schriftrolle, die bei Salomon den Text aus Weish 5,15 enthält, einer der Lesungen für den Sonntag aller Heiligen: „Die Gerechten aber leben in Ewigkeit, der Herr belohnt sie, der Höchste sorgt für sie. ”
Im unteren Bereich befinden sich weitere Verweise auf das Jüngste Gericht: Dort thronen in einer paradiesischen Landschaft die Vorväter Abraham und Jakob mit den Seelen der Gerechten im Schoß. Der sprichwörtliche „Schoß Abrahams“ geht zurück auf das Gleichnis vom reichen Mann und Lazarus (Lk 16), dessen Seele der reiche Mann aus der Hölle heraus im Schoß Abrahams im Paradies erblickt. Menschliche Seelen werden in der christlichen Ikonographie oft als gewickelte Kleinkinder dargestellt, etwa bei der Entschlafung der Muttergottes. Symbolisch bezeichnet die weiß gekleidete Schar der Rechtschaffenen auch die geistlichen „Kinder“ bzw. Nachkommen des Stammvaters Abrahams. Zwischen den Vorvätern steht der Gute Schächer mit dem Kreuz.
Russische Darstellungen von Allerheiligen besitzen in der Regel keine runde Form der Anordnung und bilden oft das Zentrum einer Wochenikone. Diesem Thema liegt der orthodoxe Wochenzyklus zugrunde, der mit jedem Tag der Woche das Gedächtnis eines besonderen Mysteriums, eines Heiligen oder einer Gruppe von Heiligen verbindet (Abb. 2).
Folgende Szenen repräsentieren die sieben Wochentage: die Auferstehung bzw. Hadesfahrt Christi den Sonntag, die Versammlung (Synaxis) der Erzengel den Montag, Johannes der Täufer den Dienstag, die Verkündigung an Maria den Mittwoch, die Fußwaschung den Donnerstag und die Kreuzigung den Freitag. Diese Motive sind in den sechs kleineren Bildfeldern wiedergegeben. Am Samstag gedenkt man allen Heiligen, was im Zentrum und im unteren Teil dargestellt ist. Im Zentrum wird die Neutestamentliche Dreifaltigkeit von der Muttergottes, Johannes dem Täufer und Engeln flankiert. Darunter befinden sich die Hetoimasia und links und rechts durch braune Kielbögen gegliederte Gruppen der Heiligen, um deren Fürbitte bei der Wiederkunft Christi zum Jüngsten Gericht die Gläubigen an diesem Tag flehen. In der untersten Reihe sind auf jeder Seite vier Bögen mit Asketen und Märtyrern, Aposteln und heiligen Königen gemalt. In der zweiten Reihe sind es jeweils drei Bögen mit Asketen und Märtyrern, während in den Bögen der oberen Reihe auch zahlreiche weibliche Heilige wie Königinnen und Nonnen ihren Platz haben. In der Mitte stehen der Schutzengel und drei weiß gekleidete Kinder. Letztere stehen für die unschuldigen Kleinkinder, die dem Kindermord von Bethlehem zum Opfer fielen.
Eine Ikone aus der Schenkung von Dr. Reiner Zerlin zeigt eine ungewöhnliche Kombination (Abb. 3): Im zentralen Bildfeld ist das Thema „Über Dich freuet sich die ganz Schöpfung“ zu sehen. Es basiert auf einem Lobgesang zu Ehren der Muttergottes des byzantinischen Theologe und Hymnendichters Johannes von Damaskos. Er wird in der Basileios-Liturgie während der Fürbitten für alle Heiligen am Ende der Anaphora gesungen. Die Ikonographie setzt wesentliche Passagen des Hymnus textgetreu um: „Über Dich, Gesegnete, freuet sich die ganze Schöpfung, der Engel Versammlung und der Menschen Geschlecht. Geheiligter Tempel, geistiges Paradies, Ruhm der Jungfrauen, in Dir hat Gott Fleisch angenommen ... Deinen Schoß machte er zu einem Thron, weiter als die Himmel.“ Das Geschlecht der Menschen wird durch Gruppen verschiedener Heiliger repräsentiert, wie sie in einem Gebet vor dem Singen des Hymnus aufgezählt werden. Dazu gehören Propheten, Kirchenväter, Bischöfe, Apostel, Märtyrer und Fürsten. Drei Kinder und eine Gruppe weiblicher Heiliger befinden sich am rechten Rand. Links unterhalb des Throns ist an prominenter Stelle (zur Rechten der Muttergottes) der Hymnendichter Johannes von Damaskos mit weißem Turban und einer Schriftrolle in der Hand platziert.
Auf dem oberen Rand befindet sich die kaum noch erkennbare alttestamentliche Dreifaltigkeit, auf die Seitenränder sind die schon erwähnten sechs mit den Wochentagen korrespondierenden Festtagsmotive gemalt. Von links nach rechts, erste Reihe: Auferstehung (Sonntag), Synaxis der Erzengel (Montag). Zweite Reihe: Enthauptung von Johannes dem Vorläufer (Täufer) (Dienstag), Verkündigung an Maria (Mittwoch). Dritte Reihe: Fußwaschung (Donnerstag), Kreuzigung (Freitag). Das Thema „Über Dich freuet sich die ganze Schöpfung“ steht hier also für den Samstag und das Gedenken an alle Heiligen. Diese Zusammenstellung ist auf Ikonen nur sehr selten anzutreffen, wenngleich sie liturgisch gut begründet ist.
Lutz Rickelt, 3. November 2021
Ikone des Monats (Oktober 2021)
Muttergottes „Freude aller Leidenden“
Russland (Jaroslavl’?), um 1700
Eitempera auf Holz, 54 x 45,5 cm
Erworben 1955 aus der Sammlung Dr. Heinrich Wendt (Inv. Nr. 71)
Der Muttergottes wurde und wird in Russland besondere Verehrung entgegengebracht, was sich in einer großen Vielfalt verschiedener Ikonen-Motiven zeigt. Das Motiv „Freude aller Leidenden“ (russ. Vsech skorbjaščich radost‘) wurde im 17. Jahrhundert bekannt. Der Erzählung nach litt Evfimija, die in Moskau lebende Schwester des Patriarchen Ioakim (im Amt 1674–1690), lange Zeit an einer schweren Krankheit. Während sie eines Tages betete, forderte sie eine Stimme auf, Zuflucht bei der Muttergottes zu suchen, der Heilerin aller. In der Verklärungskirche gäbe es eine Ikone, die „Freude aller Leidenden“ genannt werde. Wenn sie einen Priester bitte, diese Ikone zu ihr zu bringen und vor ihr bete, werde sie Heilung finden. Wie in solchen Geschichte üblich, geschah es genauso und Evfimija wurde gesund.
Die Ikone befand sich in der Moskauer Verklärungskirche in der Bol’šaja-Ordynka-Straße (unweit der heutigen Tret’jakov-Galerie). Nach der Oktoberrevolution wurde die Kirche geschlossen und das Gnadenbild ging verloren. Heute befindet sich dort eine Kopie, der aber dieselben Wunderkräfte wie der Urikone zugeschrieben werden. Noch immer beten die Menschen in Kummer und Not vor der Ikone ein bekanntes Mariengebet: „Aller Betrübten Freude, und Gekränkten Schutz, der Hungernden Fürsorgerin, der Irrenden Trost, der in Not Geratenen sicherer Hafen, der Kranken Weggefährtin, der Schwachen Hort und Fürsprecherin, des Alters Stütze, Du Mutter des Höchsten Gottes, Allheilige, wir bitten Dich: Eile, Deine Diener zu retten!”
Die Ikone wird in Russland am 24. Oktober verehrt, von dem wundertätigen Moskauer Gnadenbild wurden zahlreiche Kopien angefertigt. Vor allem im 19. Jhd. war das Sujet äußerst populär – vermutlich handelt es sich um das meistverkaufte Ikonen-Motiv in Russland. Einige der Kopien sollen ebenfalls Wunder gewirkt haben.
Unsere Ikone des Monats (Abb. 1) wiederholt die Ikonographie der Moskauer Ikone. Die in kaiserliche Gewänder gekleidete und von einer Strahlenmandorla umgebene Muttergottes steht im Zentrum der Darstellung mit dem Christuskind auf dem Arm auf einem Podest aus Wolken. Mit der rechten Hand weist sie auf das Christuskind, wendet den Blick aber zur Seite den sie umringenden Bittstellern zu. Zwei Engel führen ihr Gruppen von Kranken, Nackten und Leidenden zu, die sich mit auf Schriftrollen geschriebenen Bitten an sie wenden. Die Nackten bitten um Kleidung, die Kranken um Heilung, die Hungrigen um Nahrung, die Durstigen um Trank, die Tauben um Gehör, die Betrübten um Trost, die körperlich Beeinträchtigten darum, wieder gehen zu können. Über den zur Muttergottes drängenden Menschengruppen befinden sich vier nimbierte Heilige, links Sergij von Radonež und Theodoros von Sykeon, rechts Varlaam von Chutyn und Gregorios Dekapolites. Darüber schweben auf Wolken zwei Engel mit liturgischen Fächern (Ripidia). In einem Himmelssegment erscheint die Dreifaltigkeit im sogenannten neutestamentlichen Typus (Christus thront zur Rechten Gottvaters, die Taube als Symbol des Heiligen Geistes befindet sich zwischen ihnen).
Die Kartusche am unteren Bildrand enthält einen Gebetstext: „Auf Dein Allreines Bild schaue ich, als ob ich Dich selbst sehe, Muttergottes. Ich glaube von Herzen und mit Liebe aus (meiner) Seele und falle nieder und verehre den von Dir auf dem Arm gehaltenen präexistenten Knaben, unseren Herrn Jesus Christus.“
Für die Ikone wurde 1825 eine Riza (russ. Kleid, Bekleidung) angefertigt, ein Silberbeschlag, der lediglich das Inkarnat der Figuren unbedeckt ließ (Abb. 2 u. 3). Er ist an der oberen Seitenkante durch eine punzierte Inschrift datiert und mit einer Gewichtsangabe (310 zolotni = 554,58 g) versehen.
Neben dem Moskauer Typus existiert eine zweite Variante des Motivs, die ebenfalls auf wundertätige Vorbilder zurückgeht und oft als „südrussisch“ bezeichnet wird (aber nicht nur dort verbreitet ist). Besonders bekannt ist die Ikone der Muttergottes „Freude aller Leidenden“ von Tobol’sk, die einen Kaufmann auf wundersame Weise gerettet haben soll, nachdem dieser in einer Notlage die Stiftung eines kostbaren Beschlags für die Ikone gelobt hatte. Beim südrussischen Typus wird die Gottesmutter ohne Kind und mit ausgestreckten Armen meist vor blühenden Ranken gezeigt. Das ausgewählte Beispiel (Abb. 4, Mitte 19. Jahrhundert, Geschenk von Dr. Wolfgang Hunold 2018, Inv.-Nr. 4094) besitzt ebenfalls eine filigran verzierte Riza aus Silber. Auf dem Rand sind Punzen angebracht, die Prüfmeister Aleksandr Nikolaevič Mitin (1842–1877 tätig) und den Silberschmied Fedor Andreev Verchovcev († 1867) sowie das Jahr 1860 nennen.
Lutz Rickelt, 18. Oktober 2021
Ikone des Monats (September 2021)
Dem Himmel so nah
Hl. Symeon Stylites
Russland, 17. Jahrhundert
Eitempera auf Holz
102,0 x 33,0 cm
(Inv. Nr. 476)
Das orthodoxe Kirchenjahr beginnt am 1. September, dem Gedenktag für den hl. Styliten (Säulenheiligen) Symeon den Älteren (389–459). Säulenheilige praktizierten eine besondere Form der Askese: Um Gott nah zu sein und sich von der irdischen Welt buchstäblich zu entfernen, lebten sie auf einer Säule, wo sie überwiegend schutzlos Wind und Wetter ausgesetzt waren. Bild 2 zeigt eine Platte aus vergoldetem Silber mit einer Darstellung Symeons auf seiner Säule; die sich um die Säule windende Schlange symbolisiert das Böse, die irdischen Versuchungen, denen sich der Heilige entzieht. Nahrung und Eucharistie wurden ihm mithilfe von Leitern oder an Seilen befestigten Gefäßen gebracht.
Symeon wird als der erste Säulenheilige verehrt. Seine Säule soll ca. 18 Meter hoch gewesen sein und verfügte über eine ca. zwei Quadratmeter große Plattform, die Symeon bis zu seinem Tode niemals verließ (ein Zeitraum von 37 Jahren). Von dort aus predigte er den Scharen von Pilgern, die aus der ganzen christlichen Welt zu ihm strömten. Sogar Kaiser Theodosios II. kam zu Symeon und ließ sich von ihm beraten.
Von anderen Säulenheiligen ist bekannt, dass sie bei bedeutenden Anlässen von ihrer Säule herabstiegen, was großes Aufsehen und Staunen erregte. Ein gutes Beispiel ist Daniel Stylites (409–493), ein Schüler Symeons. Er bezog eine Säule in Anaplus bei Konstantinopel, die er ein einziges Mal verließ, um den Usurpator Basiliskos (reg. 475–476) zu maßregeln, der sich mit dem Patriarchen von Konstantinopel Akakios in theologischen und kirchenpolitischen Fragen überworfen hatte. Als sich Daniel anschickte, von seiner Säule herabzusteigen, wurde er von der zusammenströmenden Menschenmenge als neuer Elias gefeiert, der den neuen Ahab (damit ist Basiliskos gemeint) beschämen werde. Daniel gelang es, Basiliskos zur Versöhnung mit Akakios zu bewegen, der Usurpator wurde allerdings kurze Zeit später vom rechtmäßigen Kaiser Zenon (474–491) vertrieben.
Kaiser Zenon war es auch, der in den Jahren 476–490 am Standort der Säule Symeons ein großes Pilgerzentrum mit vier kreuzförmig um die Säule gruppierten Basiliken bauen ließ (Bild 3 - einen Überblick über die Anlage zeigt temporär der Slider auf unserer Startseite). Es wurde Qal’at Sem’an (Festung Symeons) genannt und befindet sich im Nördlichen Kalksteinmassiv in Syrien. Die Ruinen beeindrucken noch heute, leider wurden sie im syrischen Bürgerkrieg stark verwüstet.
Die Blütezeit des Stylitentums war die Spätantike bis ins 7. Jahrhundert, doch auch danach gab es Asketen, die diese Form des Rückzuges von der Welt wählten (z. B. Lukas Stylites, der im 10. Jahrhundert auf dem bithynischen Olymp in Kleinasien lebte). Auch in Russland gab es Styliten, bekannt ist der hl. Nikita Stolpnik (gest. 1186), der am Pleščeevo-See in Zentralrussland lebte und viele Wunderheilungen gewirkt haben soll (unter anderem an dem späteren Fürsten und Märtyrer Michail von Černigov, 1179–1246). Der Beiname Stolpnik ist die russische Entsprechung des griechischen Wortes Stylites.
Lutz Rickelt, 13. September 2021
Ikone des Monats (August 2021)
Mandylion
Das Mandylion oder Abgarbild war einer der wichtigsten Schätze der Christenheit, ein authentisches Abbild Christi auf einem Tuch (arab.: mandil oder mindil). Der Legende nach sandte Christus dieses Tuch mit dem von ihm selbst erzeugten Gesichtsabdruck an König Abgar von Edessa, um ihn von einer schweren Krankheit zu heilen. Nach verschiedenen Fassungen der Legende wurde das Tuchbild vom Apostel Thaddäus und/oder dem von Abgar ausgesandten Boten Hannan nach Edessa gebracht, wie auf einer weiteren Ikone aus dem Ikonen-Museum zu sehen ist (bei der es sich ursprünglich um ein Randbild einer monumentalen Mandylion-Ikone handelte, Bild 2). In einer altrussischen, auf eine griechische Vorlage zurückgehenden Version der Abgarlegende aus dem 12. Jhd. heißt es dazu:
Als Abgar das Schweißtuch und das Bild Jesu Christi auf dem Leinentuch sah, … sprang er aus dem Bett auf. Er war gesund zur selben Stunde am ganzen Körper, so als wäre er niemals krank gewesen. Er fiel vor dem reinen Abbild nieder und betete es voller Liebe an.
Eine Besonderheit dieser Fassung ist die Identifikation eines Hannan begleitenden „Schnellschreibers“, der im Auftrag Abgars vergeblich versucht, Christus zu porträtieren, mit Lukas:
Und er ... begann, das Bild des Antlitzes Jesu mit natürlichen Farben zu malen und er geriet in Verlegenheit. Wie hätte er nämlich das Wort der unerreichbaren Gottheit erreichen können? ... Und sogleich rief Jesus ihn an und sprach zu ihm: „Lukas, Lukas, du Bote Abgars, gib mir das Leinentuch, das du von Abgar bringst!“ Und Lukas ... gab Jesus das Leinentuch und sogleich bat Jesus um Wasser und wusch sein reines und göttliches Angesicht mit Wasser ab. Und auf dem Leinentuch – oh Wunder und hoher Sinn, der allen Verstand überschreitet – verwandelte sich das einfache Wasser und wurde zu einem Bestandteil des Leinentuches. Da befand sich das Bild auf dem Leinentuch ... Und Jesus gab dem Apostel Thaddäus das Leinentuch und sandte ihn in die Stadt Edessa, wo Abgar schon sechs Jahre krank auf dem Lager lag.
Der Evangelist Lukas gilt auch als Maler der frühesten Marienikonen. Auch in einem römischen Traktat aus dem 12. Jhd. wird berichtet, dass Lukas versucht habe Christus zu malen, damit den Jüngern nach dessen Himmelfahrt wenigstens ein Bild verbliebe. „Der Himmel“ griff ein und vollendete das Bild „ohne Menschenwerk“. Die Abgarlegende wird in diesem Text nicht erwähnt.
Das Mandylion soll im 4.Jahrhundert über dem Stadttor Edessas eingemauert worden sein und geriet in Vergessenheit. Erst im 6. Jahrhundert wurde es während eines persischen Angriffs auf die Stadt wiederentdeckt. Bei seiner Freilegung bemerkte man, dass sich der Gesichtsabdruck Christi auf einen Ziegel übertragen hatte; der Ziegelabdruck (keramidion) wurde selbst zur Ikone. Der Schutz des Mandylions soll schließlich die Rettung der Stadt vor den Persern bewirkt haben.
Am 16. August 944 wurde das Mandylion unter großem Aufsehen in die byzantinische Hauptstadt Konstantinopel überführt und fortan in der Palastkapelle am Leuchtturm (Pharos) verehrt, in der sich die wichtigsten Reliquien des byzantinischen Reiches befanden (Bild 3). Nach der Plünderung Konstantinopels durch den Vierten Kreuzzug 1204 verliert sich seine Spur, wenngleich man in Konstantinopel (weiterhin) und auch an anderen Orten (Paris, Rom, Genua) beanspruchte, das Mandylion zu besitzen. Zwei Ikonen wurden in besonderem Maße als Original-Mandylion verehrt: Die erste befindet sich in Rom (ehemals in der Klosterkirche S. Silvestro in Capite, heute im Vatikan), die andere kam 1384 als Schenkung des byzantinischen Kaisers Johannes V. (1341–1391) in die Klosterkirche S. Bartolomeo degli Armeni in Genua. Beide Ikonen zeigen einen alten Darstellungs-Typus des Mandylions, der möglicherweise auf das Original zurückgeht. Neuere Theorien erwägen, dass es sich beim sog. Schleier von Manoppello (Volto Santo) um das Tuchbild aus Edessa handeln könne.
Das Mandylion war der Archetypus der „nicht von Menschenhand geschaffenen“ (griech. acheiropoieton) Ikonen. Die durch zahlreiche Legenden untermauerte Existenz dieser Bilder war eines der wichtigsten Argumente zugunsten der Ikonenverehrung, die das Bilderverbot im Alten Testament eigentlich untersagte und um die in der Kirche lange erbittert gestritten wurde. Die der Ikone erwiesen Verehrung bezieht sich nicht auf sie als Objekt, sondern die dem Abbild (der Ikone) erwiesene Verehrung gilt dem Urbild (Christus, Gottesmutter Heilige). Durch die Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus wurde er in seinem irdischen Wirken darstellbar, wie er selbst durch das Mandylion bewies. Im weiteren Sinne ist das Mandylion gleich dreifach Ausdruck einer Urbild-Abbild-Relation: Es ist Abbild Christi und der Inkarnation Gottes; es ist das Urbild aller Christus-Ikonen und der Ikonenmalerei insgesamt; es ist das Urbild von hunderten, wenn nicht tausenden Abbildern, die als Kopien auf Ikonen gemalt wurden. Und trotz des Verlustes des Originals wird dieses doch mit all seinen Kräften und Eigenschaften als im Abbild präsent gedacht, was für alle Kopien vorbildhafter Ikonen gilt. Auf hunderten von Kopien in verschiedensten Techniken lebte das Mandylion vor allem in Russland weiter, wobei die Darstellung meist nahezu identisch ist: Sie zeigt das Porträt Christi ohne Hals- und Schulteransatz auf dem Hintergrund eines Tuches, das hier von zwei Engeln gehalten wird (Bild 1). Die kennzeichnenden Attribute des Christusporträts, Kreuznimbus und die Buchstaben IC XC in den oberen Bildecken, fehlen nie. Am unteren Rand des Tuches steht der Titel in kirchenslavischer Zierschrift: „Nicht von Menschenhand gemachtes Bild unseres Herrn Jesus Christus.“ Die Worte sind teilweise abgekürzt. Die Ikone gehört zur Sammlung von Dr. Reiner Zerlin, die er 2019 dem Ikonen-Museum schenkte.
Die Übertragung des Mandylions von Edessa nach Konstantinopel wird auch heute noch am 16. August gefeiert.
Lutz Rickelt, 20. August 2021
Ikone des Monats (Juli 2021)
Johannes im Schweigen
Auf Wunsch eines unserer Besucher geht es diesen Monat um das Thema „Johannes im Schweigen“. Die ausgewählte Ikone (Bild 1) aus der Schenkung von Dr. Reiner Zerlin stammt aus Russland und wurde im 17. Jahrhundert gemalt (Inv.-Nr. 4254). Sie trug einen Metallbeschlag auf dem Rahmen (Basma), der nicht zu der Ikone passte und deswegen abgenommen wurde. Der ursprünglich auf dem Rand befindliche Titel wurde übermalt. Dem Format nach (31,5 x 26,8 cm) handelt es sich um eine Hausikone.
Johannes der Evangelist oder auch der Theologe ist der Autor des Johannesevangeliums. Die Überlieferung setzt ihn mit dem Apostel Johannes gleich, dem Lieblingsjünger Christi. Seine besondere Nähe zu Christus kommt darin zum Ausdruck, dass er diesen auf den Berg Tabor (Verklärung Christi) begleiten und auch im Garten Gethsemane in seiner Nähe bleiben durfte (jeweils zusammen mit Petrus und Jakobus). Ihm vertraute Christus am Kreuz seine Mutter an (Joh 19,27). Kirchliche Tradition sieht in ihm auch den Verfasser der Offenbarung sowie der Johannesbriefe, was in der Forschung umstritten ist. Für das Ikonenmotiv ist die Klärung dieser Frage nicht von Belang.
Die vier Evangelisten werden in der christlichen Kunst in der Tradition antiker Autorenbildnisse dargestellt, beim Schreiben ihrer Evangelien. In dieser Art ist Johannes auf einer kleinen russischen Metallikone aus dem 18. Jahrhundert zu sehen (Bild 2): Er sitzt auf einem Stuhl vor einem kleinen Tisch, auf dem ein Tintengefäß mit Feder steht, und hält sein Evangelium auf dem Schoß - schreibt aber nicht (siehe unten). Die vier Evangelisten werden in der christlichen Kunst seit dem 4. Jahrhundert durch vier geflügelte Symbole dargestellt, die auf die Vision des Ezechiel und die Johannesoffenbarung zurückgehen (Ez 1,4–10; 10, 14; Offb 4,6–8). Im Westen setzte sich die vom Kirchenvater Hieronymus gemachte Zuordnung durch: Ein Mensch (bzw. Engel) versinnbildlicht Matthäus, der Löwe Markus, der Stier Lukas und der Adler Johannes. In der orthodoxen Kirche blieb auch die frühere Zuordnung von Irenäus von Lyon lebendig, der Johannes den Löwen und Markus den Adler zugeordnet hatte. Die Metallikone zeigt nach Hieronymus einen Adlerkopf als Symbol für Johannes.
Auf der Ikone aus der Schenkung Zerlin ist Johannes als älterer bärtiger Mann mit hoher Stirn als Zeichen hoher Weisheit und Vergeistigung im Halbporträt zu sehen, in Anlehnung an antike Philosophendarstellungen ist er in Chiton und Himation gekleidet. Er hält einen halbgeöffneten Kodex mit der linken Hand, in dem die Anfangsworte seines Evangeliums zu lesen sind: Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott (Joh 1,1). Im Gegensatz zur westeuropäischen Kunst, die Johannes auch als Evangelist in der Regel als jungen bartlosen Mann wiedergibt, malte ihn die Ostkirche nur als Jünger Christi jung (etwa unter dem Kreuz), beim Schreiben seines Evangeliums oder der Offenbarung dagegen alt (möglicherweise wegen des ihm zugeschriebenen hohen Alters). Eine häufig anzutreffende Form der Darstellung zeigt ihn zusammen mit seinem Schüler Prochoros, dem er auf der Insel Patmos die Offenbarung diktiert haben soll (das Evangelium habe er später in Ephesos verfasst, wo Kaiser Justinian im 6. Jahrhundert die monumentale Johannesbasilika über seinem Grab errichten ließ).
Die besondere Handhaltung ist es, die den Titel „im Schweigen“ visualisiert (auch auf der Metallikone legt Johannes einen Finger an seine Lippen). Der Schweigegestus wurde ebenso wie der Philosophenhabitus aus der Antike tradiert. In Antike und Mittelalter spielte spielte das Vortragen der eigenen Texte vor Publikum eine wichtige Rolle; auch beim Schreibvorgang selbst wurde der Text meist laut gesprochen (z. B. diktiert), empfangene Brief nicht still gelesen, sondern laut vorgelesen. Das Aussprechen des Geschriebenen war also sehr wichtig. Johannes aber schweigt. Er erkennt an, dass das niedergeschriebene Wort nicht von ihm selbst stammt, sondern göttlich offenbart ist. Johannes hört zu und hat dazu den Kopf leicht geneigt. Eine Engelsgestalt flüstert ihm die himmlischen Worte ins Ohr, was manchmal durch einen hellen Strahl zwischen Mund und Ohr angedeutet wird. In den runden Nimbus des Engels ist ein achteckiger Stern in roter und blauer Farbe eingeschrieben. Auf Vergleichsbeispielen ist die Engelsgestalt durch eine Inschrift als "Heiliger Geist" identifiziert, der Johannes seine Schrift eingibt. In der Offenbarung des Johannes wird mitgeteilt, dass sie ihm von einem von Christus gesandten Engel gezeigt wurde (Offb 1,1–2).
Das Thema „Johannes im Schweigen“ ist somit eine interessante Variante eines Autorenbildes, bei der der menschliche Autor seine Urheberschaft verneint. Sie basiert auf antiken Anschauungen von Rhetorik, weist aber die so wichtige Inszenierung von Autorschaft durch das Aussprechen, das Vortragen der eigenen Zeilen dezidiert zurück.
Lutz Rickelt, 06. Juli 2021
Ikone des Monats (Juni 2021)
Muttergottes von Tichvin
Im vergangenen Jahr haben wir im Juni einer Ikone der Muttergottes von Vladimir vorgestellt, die ihren Hauptfesttag am 23. Juni hat. Heute blicken wir auf eine Ikone, die drei Tage später, nämlich am 26. Juni besonders gefeiert wird, die Muttergottes von Tichvin (Abb. 1). Auch sie gehört zu den am meisten verehrten und dementsprechend auch zu den am häufigsten gemalten Marienikonen Russlands. Sie trägt ein Toponym als Beinamen, den sie nach ihrem Aufbewahrungsort, dem Mariä-Entschlafen-Kloster von Tichvin östlich von St. Petersburg erhielt.
Die überaus zahlreichen Beinamen der Muttergottes und ihrer Ikonen sind ein deutliches Zeichen für die vielfältigen Formen ihrer Verehrung. Neben Toponymen gibt es andere Arten der Bezeichnung: Die erste und (heute) wichtigste leitet sich von der ikonographischen Darstellung ab, wie die Muttergottes Hodegetria oder Eleousa/Umilenie. Auch diese Marienbilder werden auf eine Urikone zurückgeführt, ihre Bezeichnung aber auch für andere Ikonen und zur typologischen Einordnung verwendet. Andere Beinamen resultieren aus den um die Ikone rankenden Legenden, wie es z. B. bei der Portaitissa (von der Pforte) oder der dreihändigen Muttergottes (Tricherousa) der Fall ist. Oft trägt eine Marienikone den Namen der Kirche, in der sie verehrt wird; in diesen Fällen handelt es sich meist nicht um eigene ikonographische Typen. Die Vielfalt von Bezügen zu lokaler Flora und Fauna ist in Griechenland und auf Zypern besonders hoch: Die auf Zypern beheimatete Muttergottes tou Arakou (der Erbse) ist vielen aufgrund der kunsthistorischen Bedeutung ihrer Kirche ein Begriff, aber wer kennt schon die Muttergottes vom Krebs (Panagia Kavouradaina), die auf Leros eine kleine Kappelle an der Küste hat, oder die Muttergottes der Artischocke (Ankinariotissa) auf Chios?
Viele der national verehrten russischen Marienikonen tragen ein Toponym als Beinamen (Vladimirskaja, Smolenskaja, Kazanskaja, Tichvinskaja usw.), der sich auf ihren Erst- oder Hauptverehrungsort oder den Platz einer wundersamen Auffindung bzw. Erscheinung bezieht. Die Ikone der Muttergottes von Tichvin soll am 26. Juni 1383 auf einer Wolke schwebend über dem Lagodasee erschienen sein und selbst den Bauplatz für ihre Kirche (und das spätere Kloster) am Fluss Tichvinka bestimmt haben. Einer späteren Ausschmückung der Legende zufolge stammte sie aus Konstantinopel, dass sie entweder aufgrund des dort herrschenden „Bruderzwistes“ (eine Anspielung auf die innerkirchlichen Auseinandersetzungen im späten Byzanz) oder aufgrund der bevorstehenden osmanischen Eroberung (1453) verlassen habe. Ikonen werden in vielen Legenden mit einem eigenen Willen ausgestattet; besonders für der Zeit des Bilderstreites in Byzanz berichten viele Legenden, dass sich Ikonen auf wundersame Weise eine neue Bleibe gesucht hätten. Derartige Legenden dienten auch der Begründung von Autoritätsübertragungen: Bevor sich Ivan IV. der Schreckliche im Jahr 1547 zum Zaren (Caesar, Kaiser) krönen ließ, betete er sicherlich nicht zufällig vor dem Gnadenbild von Tichvin, um auf diese Weise die Legitimität seines imperialen Titels zu unterstreichen, mit dem er an die Kaiser von Byzanz anknüpfte.
Die Tichvinskaja brachte aber auch handfesteren Schutz: Im Jahr 1613, also zur Zeit der Thronwirren nach dem Ende der Rurikidendynastie, belagerten schwedische Soldaten das Kloster von Tichvin. Sie zogen sich zurück, da sie das Nahen eines Entsatzheeres fürchteten, das aber gar nicht im Anmarsch war. Dieses „Wunder“ schrieb man dem Wirken der Ikone zu und fügte der angeblichen Herkunft aus Konstantinopel einen weiteren Mosaikstein hinzu: Nun sollte es sich um die Marienikone handeln, die im Jahr 626 die Rettung der byzantinischen Hauptstadt vor den Avaren und Persern bewirkt hatte – ein Ereignis, auf das in der Einleitung des berühmten Marienhymnus Akathistos Bezug genommen wird und das deswegen allen Gläubigen bekannt war.
Die Urikone von Tichvin (Abb. 2) stammt aus dem 12. oder 13. Jahrhundert. Das Original wurde Ende 1944 von Erzbischof Johann aus Sorge vor dem Vormarsch der Roten Armee nach Westen gebracht. Nach einer Odyssee über Pskov, Riga, Danzig, Koblenz, Prag, Boston, New York und Chicago kehrte die Ikone am 26. Juni 2004 wieder in ihr Kloster zurück. Von der Hodegetria unterscheidet sich die Tichvinskaja dadurch, dass das Christuskind seitlich auf dem linken Arm der ihm zugeneigten Muttergottes sitzt und die Beine so übereinandergeschlagen hat, dass die nackte Fußsohle zu sehen ist. Die Recklinghäuser Ikone kopiert das Vorbild relativ genau und weist auch annähernd dieselben Maße auf. Die Inschriften wurden nach Abschaben des ursprünglich ockerfarbenen Grundes erneuert.
Nachweis Abbildung 2: www.icon-art.info/masterpiece.php
Lutz Rickelt, 15. Juni 2021
Im Museum I
Die Inventarisierung einer äthiopischen Sammlung
Wie werden die Sammlungsgegenstände im Ikonen-Museum erfasst? Es gibt ein festes Prozedere, das sich je nach Objektart nur im Detail unterscheidet. Unser Praktikant Jan-Pierre Feldmann hat es im Rahmen der Erfassung einer 198 Objekte umfassenden Privatsammlung kennengelernt, die dem Museum als Dauerleihgabe anvertraut wurde. Dazu hat er einen kurzen Bericht verfasst:
Die Sammlung besteht vor allem aus Kreuzen in verschiedenen Formen, aber auch aus gemalten Ikonen (überweigend die aus zwei Tafeln bestehenden Diptychen) und unterschiedlichen Gegenständen aus Liturgie und Alltag. Bevor die Objekte erforscht oder ausgestellt werden können, müssen sie als Inventar des Museums erfasst werden. Dies geschieht über die Vergabe von Inventarnummern, die - wo dies möglich ist - auf einem kleinen Papierschildchen an dem Objekt befestigt werden.
Zur Inventarisierung wird zunächst ein Formular ausgefüllt, in dem u. a. Inventarnummer, Objektbezeichnung, Maße, Herkunft und Datierung erfasst werden, außerdem eine Bestimmung der zur Herstellung benutzten Techniken und natürlich das Material. Diese Angaben werden später in die elektronische Datenbank übertragen. Von jedem Werk muss mindestens ein Foto angefertigt werden, dessen Nummer ebenfalls notiert wird, um es auch später eindeutig zuordnen zu können.
Auf dem Foto sind vier äthiopische Handkreuze während der Inventarisierung zu sehen. Zum Erfassen der technischen Informationen werden Messwerkzeuge, Taschenlampe und Lupe benötigt. Daneben ist auch ein Blick in die Fachliteratur hilfreich. Das Kreuz hat in Äthiopien eine besondere Bedeutung, deswegen kommen Handkreuze und um den Hals getragene Kreuzanhänger sehr häufig vor und spielen in jeder Sammlung äthiopischer christlicher Kunst eine zentrale Rolle. Die Formen der Kreuze können sehr unterschiedlich sein und sind oft auf den ersten Blick kaum als Kreuz zu erkennen.
Die zur Herstellung verwendeten Materialien sind sehr vielfältig. Neben den auf der Abbildung zu sehenden, aus Holz geschnitzten Kreuzen sind Metallkreuze häufig anzutreffen, besonders oft aus Buntmetallen (vor allem Messing) gegossene Handkreuze. Bei den aus Holz gearbeiteten Stücken wird oft die Grundform eines Rhombus verwendet. Die Skala reicht von sehr einfachen bis zu künstlerisch sorgfältig gearbeiteten Stücken. Auf der Oberfläche werden häufig Kerbschnitt-Verzierungen angebracht. Die Griffstange ist meistens mit einem einfachen Dekor versehen, nur bei einem der oben abgebildeten Kreuze wurde sie aufwändiger verziert.
Eine Datierung erfolgte anhand von Vergleichen mit bereits publizierten und datierten Stücken. Drei der Handkreuze können in das späte 19. oder 20. Jahrhundert datiert werden. Das Handkreuz mit der Inventarnummer 9995 scheint älter zu sein als die übrigen Kreuze, dürfte aber auch ins 19. Jahrhundert gehören. Es sollte unbedingt bedacht werden, dass einzelne Formen lange Verwendung fanden und das bis heute auf ältere Vorbilder zurückgegriffen wird. Aus diesen Gründen ist eine eindeutige zeitliche Zuordnung sehr schwierig und bedarf einer genaueren wissenschaftlichen Untersuchung.
Jan-Pierre Feldman, 22. April 2021
Ikone des Monats (April 2021)
Die Höllenfahrt Christi (Anastasis)
Russland (Pskov?), um 1500
Eitempera auf Lindenholz, 59,5 x 46,0 cm
Geschenk von Dr. Reiner Zerlin, Brühl 2019
Inv. Nr. 4102
Eine der zentralen Fragen des Menschen ist die Frage, was nach dem Tod passiert. Unsicherheit und Angst verbinden viele damit, andere sehen darin Erlösung oder Hoffnung. So ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass der Höhepunkt des christlichen Kirchenjahres den Tod Christi und seine Auferstehung zum Thema hat, da hier Todesangst und Scham, Erniedrigung und Verspottung durch die Überwindung des Todes in Jubel und Zukunftsglaube verwandelt werden.
Das Osterbild der Ostkirche greift eben jene Hoffnung des Menschen auf Erlösung auf und zeigt Christus nicht allein als leiblich auferstandenen Triumphator über den Tod, sondern als den Erlöser, der in die Hölle hinabstieg , die Höllenpforten zerbersten ließ, um hier Adam und Eva stellvertretend für die ganze Menschheit von den Fesseln des Todes und ihren Sünden zu befreien. Hades selbst wird durch die Macht des Auferstandenen in die Knie gezwungen, wenn er gemäß der Vershymnen zur Auferstehung ruft: „Geopfert ward meine Macht, der Hirte ward gekreuzigt, den Adam hat er auferweckt. […] Leer gemacht hat die Gräber, der da gekreuzigt wurde.“
Auf der Ikone bildet Christus in einer grün-blauen Aureole mit wehendem Gewand und einem filigranen Kreuzstab in seiner linken Hand das Zentrum. Er steht auf den über Kreuz gelegten, zerborstenen Höllenpforten über dem schwarzen Abgrund der Unterwelt und wendet sich nach links. Mit seiner rechten Hand hat er Adams Handgelenk ergriffen, um ihn aus seinem Sarg zu ziehen, während die in leuchtendes Rot gehüllte Eva auf der anderen Seite mit fürbittend erhobenen Händen auf ihre Erlösung wartet. Zwei Figurengruppen von je drei Gerechten des Alten Testaments wohnen dem Ereignis bei: Hinter Adam sind dies die königlichen Propheten Salomon und David sowie Johannes der Täufer, der in der orthodoxen Kirche als letzter der Propheten des Alten Bundes «der Vorläufer» genannt wird. In ähnlicher Anordnung sind hinter Eva drei weitere männliche Figuren zu sehen, von denen der linken als Attribut Gesetzestafeln beigegeben sind – es handelt sich um Moses, der als erster Prophet das Kommen des Christus vorhergesagt hat. Die Darstellung wird von einer rotorangen, zackigen Felsenlandschaft vor einem blassgelben Hintergrund hinterfangen, die als Hinweis auf den Berg Golgahta und damit auf die Kreuzigung verstanden werden kann.
Die Ikone aus der Sammlung Zerlin datiert in die Zeit um 1500 und scheint in der Umgebung von Pskov gemalt worden zu sein – die im Nordwesten Russlands gelegene Stadt Pskov florierte neben Novgorod als selbständige Handelsstadt im 13. bis 16. Jahrhundert. Das Kolorit ist erdig-warm mit einem leuchtenden Rotorange, in dem die zackigen Felsen und Teile der Gewänder gestaltet wurden. Es steht im Kontrast zum Grünblau der Aureole, die in drei Farbabstufungen zur Mitte hin immer dunkler, ja fast schwarz wird. Möglicherweise befand sie sich einst im Festtagsrang einer Ikonostase, um dort dem Gläubigen das freudige Ereignis der Auferstehung Christi vor Augen zu führen, die Hades dazu zwang zu rufen: „Machtlos ist die Gewalt des Todes. Ehre, Herr, sei deinem Kreuz und deiner Auferstehung.“
Ana Faye Bachmann, 01. April 2021
Kleine Ikonenkunde I
Was sind wiederkehrende Merkmale einer Ikone?
Für langjährige Ikonenkenner und -sammler scheint die Frage nach den allgemeinen Wesensmerkmalen der Ikone vielleicht trivial, doch ist es für jeden Interessierten – ob Neueinsteiger auf diesem Gebiet oder «alter Hase» – eine grundlegende Frage, die je nach Perspektive des Fragestellers gar nicht so einfach mit wenigen Worten zu beantworten ist. Denn die Ikone ist ein komplexes Phänomen der christlichen Kultur. Als Jahrtausende alter Kultgegenstand übersteigt ihr Sinngehalt bisweilen das, was man mit Worten festhalten und objektiv erfassen kann. Andererseits ist die Ikone seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert auch Gegenstand der Kunst- und Kulturwissenschaften. Sie wird historisch, maltechnisch und ästhetisch erforscht – kurzum: sie ist zum Kunst-Objekt geworden. Unter diesem Gesichtspunkt ist es möglich, verschiedene Merkmale der Ikone, die dem Betrachter immer wieder begegnen, zusammenzufassen.
Wodurch unterscheidet sich also eine Ikone von anderen Bildern der darstellenden Kunst?
Da ist zunächst der theologische Grundpfeiler, den wir als Betrachter jedoch nicht unmittelbar sehen können: Eine Ikone wird als getreues Abbild eines wahren Urbildes (oder Ereignisses) verstanden und nicht als künstlerische Erfindung – sie ist in diesem Sinne also wahrhaftig. Das Herstellen einer Ikone wurde bis weit in die Neuzeit hinein als religiöse Handlung angesehen, zumal die Ikonenmaler in der Regel Mönche waren, die in Gebet und Fasten malten.
Was dem Besucher des Ikonen-Museums jedoch direkt ins Auge springen wird, sind Material und Form der meisten ausgestellten Ikonen. Es handelt sich um 2–3 cm dicke Holztafeln verschiedener Größe, die mit einem vertieften Mittelfeld versehen wurden – dieses wird auf Russisch kovčeg genannt, was auch (Reliquien-)Schrein bedeuten kann. Auf diese Weise erhält das Ikonenbild direkt einen Einfassung so, wie die Reliquie von ihrem Schrein eingefasst wird. Der Ikonenrand heißt auf Russisch pole und ist nicht als abgrenzender Rahmen zu verstehen, sondern als Bestandteil der Ikone, auf dem bisweilen der Titel der Ikone oder das Bild ergänzende Texte geschrieben stehen. Ebenso können auf dem Rand Heiligendarstellungen, Christus, die Deesis oder andere Szenen aufgemalt sein.
Und egal, welche Ikone wir dann näher betrachten – ob ein Christusbild (Abb. 3), die Muttergottes mit Kind (Abb. 1–2), einzelne Heilige oder ein biblisches Ereignis –, immer begegnen uns Schriftzüge in griechischen oder kyrillischen Lettern. Warum?
Die Beschriftung einer Ikone ist unabdingbar. Sie bezeugt gleichsam ihre Wahrhaftigkeit und ist Voraussetzung für die Ikonenweihe. Kanonisch sind die Aufschriften der abgekürzten Namen für die Muttergottes und Christus, die stets griechisch sind. Weniger streng festgelegt sind Erläuterungen der dargestellten Szenen, Aufschriften auf Schriftrollen und sonstige Beschriftungen, die in der jeweiligen Landessprache sein können.
Somit kann der Betrachter die sich wiederholenden Abkürzungen mit Leichtigkeit erkennen und zuordnen:
Maria erhielt seit dem Konzil von Ephesos im Jahr 431 den Titel der Gottesgebärerin, was auf Griechisch Theotókos (Θεοτόκος) heißt. Auf Ikonen findet der Betrachter links und rechts von ihrem Haupt die griechische Abkürzung für Muttergottes (der geschwungene Strich über den Buchstaben kennzeichnet sie als Abbreviatur):
MP ΘY (ΜΗΤΗΡ = Mutter; ΘΕΟΥ = Gottes)
Ob in großen Lettern auf dem Mosaik der Gottesmutter Orans in der Kiever Sophienkathedrale aus dem 11. Jahrhundert (Abb. 1) oder auf einer russischen Ikonentafel mit der Darstellung der Gottesmutter von Tichvin aus dem frühen 19. Jahrhundert (Abb. 2) – die Beschriftung wiederholt sich als läge zwischen der Entstehung dieser beiden Darstellungen nicht die Zeitspanne von mehreren Jahrhunderten.
Gleiches gilt für die Darstellungen Christi. Neben dem Haupt von Christus – ob als Kind (Abb. 2) oder als strenger, bärtiger Allherrscher (Abb. 3) – befindet sich links und rechts folgende Abbreviatur:
IC XC ΙΗСΟΥС = Jesus; ΧΡΙСΤΟС = Christus)
Ein weiteres Merkmal ist der Kreuznimbus, der Christus umgibt.
Bei einer Führung durchs Ikonen-Museum für eine syrische Frauengruppe vor dem zweiten Lockdown wurde ich von einer jungen Frau gefragt, was denn ein Nimbus sei. Das ist eine wichtige Verständnisfrage! Nicht jeder kennt diese Bezeichnung.
Nimbus stammt von dem lateinischen Wort für «Wolke» oder «Nebelhülle» ab und bedeutet «Heiligenschein». Bei Christusdarstellungen wird der Nimbus in der Regel durch ein Kreuz geteilt, in welchem eine weitere Aufschrift angebracht ist: ο ΩΝ (Der Seiende).
Diese Beschriftung bezieht sich auf die Vision des Mose auf dem Berg Horeb. Hier erschien ihm Gott in einem brennenden Dornbusch und nannte sich «der Seiende». Auf der Ikone des Christus Pantokrator (Abb. 4) ist zu erkennen (man muss genau hinschauen), dass auf dem linken Kreuzbalken das «ο» angebracht ist, während oben und rechts «ΩΝ» zu lesen ist.
Immer wiederkehrend ist auch das Gold, das die Mehrzahl der Ikonentafeln wenn nicht als Hintergrund, so doch in Form von Aufhellungen, Verzierungen und Umrandungen schmückt. Gold ist transzendent, raumlos, Symbol des Himmels und der geistigen Welt. Christus Pantokrator scheint geradezu körperlos zu schweben vor dem kostbaren Goldgrund (Abb. 3).
Mit dem Gold befinden wir uns inmitten der Farbsymbolik der Ikonenmalerei. Der große russische Denker Pavel Florenskij schrieb:
„Die Ikonen bezeugen durch ihre künstlerische Form unmittelbar und anschaulich die Realität dieser Form: sie sprechen, aber mit Linien und Farben. Es ist dies der mit Farbe geschriebene Name Gottes.“ (Pavel Florenskij: Die Ikonostase. Urbild und Grenzerlebnis im revolutionären Rußland, Stuttgart 1988, S. 75)
Fortsetzung folgt…
Ana Faye Bachmann, 16. März 2021
«Ikone» - Verfall oder Wandel eines Begriffs?
Als ich vor Kurzem die Neuerscheinung Ikonen. Himmel auf Erden von Michael Ladwein (Verlag Urachhaus) aufschlug, bin ich auf folgenden Satz gestoßen, der mich ins Grübeln brachte:
„Ikone? Aber welche? So ist man heute versucht zu fragen angesichts eines ausgeuferten Gebrauchs – oder besser Missbrauchs – dieses Begriffs.“
Es geht dabei darum, dass heute nicht nur das ostkirchliche Kultbild „Ikone“ genannt wird, und dass es nicht nur in der Kunst „Ikonen der Moderne“ gibt – wie etwa das Schwarze Quadrat von Malewitsch –, sondern dass wir heute auch prominente Erneuerer der Film-, Pop- und Modeszene als „Ikonen“ bezeichnen, ebenso wie Dinge, die einen gesellschaftlichen Kultfaktor erreicht haben, beispielsweise Autos oder Modeaccessoires.
Der Ausdruck „Ikone“ kommt von dem griechischen Wort eikōn (εἰκών), das ursprünglich lediglich „Bild, Abbild“ bedeutete. Etwa im 6. Jahrhundert setzte sich im byzantinischen Raum dann eine speziellere Verwendung des Begriffs durch, indem man religiöse, also christliche Bilder Ikonen nannte.
In Deutschland oder auch Frankreich wird die Bezeichnung „Ikone“ nicht vor der Mitte des 19. Jahrhunderts verwendet. Man nannte die ostkirchlichen Malereien auf Holz – also die Ikonen – Tafel- oder Heiligenbilder (so z. B. Goethe). Eine der frühen Ausnahmen ist der französische Architekt Viollet-le-Duc, der sich für sein 1877 gedrucktes Werk über die russische Kunst (L‘art Russe, ses origines, ses éléments constitutifs, son apogée, son avenir) russische Literatur übersetzen ließ – er selbst war nie in Russland gewesen (!). Das ist wohl der Grund, warum man bei ihm den Ausdruck icônes für russische Tafelbilder findet.
Erst Anfang des 20. Jahrhunderts hatte sich die Bezeichnung „Ikone“ für das ostkirchliche Kultbild im westeuropäischen Sprachgebrauch etabliert, basierend auf der zunehmenden Popularisierung der ostkirchlichen Kunst durch Studien und Ausstellungen im Westen.
Die Bezeichnung „Ikone“ ist also in der deutschen Sprache noch gar nicht so alt und kam gleichsam als Exotismus auf, um dann nach relativ kurzer Zeit einem Wandel unterworfen zu sein, der den Begriff „Ikone“ aus einem christlich-religiösen Kontext heraushebt und auf andere Dinge oder Personen anwendet, die wir (oder bestimmte Gruppen) aus verschiedenen Gründen verehren.
Ja, natürlich kann man hier einen Sprachverfall oder Missbrauch deklarieren – vor allem, wenn mit allen Mitteln ein roter Faden zwischen der Ikone der Ostkirche und den Ikonen der westlichen Welt unserer Zeit gespannt wird. Jedoch ist Sprache lebendig und seit jeher einem stetigen Wandel unterzogen, ebenso – oder noch mehr – die Kunst! Und seit die Ikone im 19. Jahrhundert den Weg in museale Sammlungen fand und Gegenstand kunsthistorischer Studien wurde, ist sie gleichzeitig ihrem ursprünglichen religiösen Zusammenhang entrissen worden und hat Einzug gehalten in die Welt der Kunst. Seither hat sie zahlreiche Künstler inspiriert, Sammler und Kunstinteressierte fasziniert – vielleicht gerade weil die Ikone altehrwürdige christliche Traditionen und künstlerische Schöpferkraft in sich vereint.
Ana Faye Bachmann
Ein Wiedersehen mit Folgen
In der Liturgie, aber auch im Alltag der orthodoxen Gläubigen ist die Muttergottes allgegenwärtig und wird als barmherzige Fürsprecherin verehrt, die bei ihrem Sohn für die Menschen eintritt. Keine andere heilige Gestalt ist in der ostkirchlichen Kunst häufiger anzutreffen.
Deswegen mag es zunächst erstaunen, wie wenige Hinweise die vier Evangelien von Markus, Matthäus, Lukas und Johannes über Marias Leben enthalten. Ihre Herkunft und Geburt und auch ihre Geschichte nach der Kreuzigung und Himmelfahrt Christ bleiben im Dunkeln, ebenso ihr eigener Tod. Diese Lücken schlossen die sogenannten Apokryphen, also Schriften, die nicht in den offiziellen Bibelkanon aufgenommen wurden, die aber für die Glaubensvorstellungen, die Liturgie und die christliche Ikonographie sehr wichtig waren. Die Trennung zwischen offiziellem Bibelkanon und den als apokryph (griech. verborgen, zweifelhaft) bezeichneten Texten war lange Zeit fließend, gerade in der Zeit der Formierung der wichtigsten Glaubensvorstellungen (4./5. Jahrhundert) bezogen sich viele Exegeten auf die Autorität von Schriften, die später aus dem Kanon ausgesondert wurden.
Die für das Leben und Sterben Marias wichtigsten Texte sind das Protoevangelium des Jakobus, das wahrscheinlich um 150/160 verfasst wurde, und Texte über den Tod Marias, die dem frühchristlichen Bischof Melito von Sardes zugeschrieben wurden und deswegen unter dem Titel Pseudo-Melito bekannt sind. Sie entstanden aber erst im 5. Jahrhundert, nachdem das Konzil von Ephesos die Muttergottes-Frage positiv entschieden hatte, wodurch die Marienverehrung an Fahrt gewann und eine Vielzahl neuer Legenden hervorbrachte.
Über die Geburt und das Heranwachsen Marias berichtet vor allem das Protoevangelium des Jakobus. Es wird berichtet, dass die bereits hochbetagten Anna und Joachim seit zwanzig Jahren verzweifelt ein Kind ersehnten. Diese Vorgeschichte wird in den Randszenen der Madonna von San Martino erzählt (Bild 1), einem byzantinisch beeinflussten Tafelbild aus einer gleichnamigen Kirche in Pisa (13. Jhd., 162 x 125 cm, heute im Museo Nazionale di San Matteo von Pisa). Oben links ist die Verkündigung an Maria dargestellt, der Zyklus der Geschichte von Joachim und Anna beginnt im ersten Feld auf der rechten Seite (Abweisung des Opfers Joachims im Tempel, weil er keine Nachkommen gezeugt hat). Danach setzt sich die Bilderfolge von links nach rechts und oben nach unten wie folgt vor:
Der beschämte Joachim verlässt Jerusalem und begibt sich in die Wüste
Verkündigung an Anna
Verkündigung an Joachim
Joachim opfert Lämmer, Ziegen und Kälber
Traum des Joachim und das Zusammenrufen seiner Hirten und Herden
Joachim zieht mit Hirten und Herden zurück Richtung Stadt
Ein Engel verkündet Anna den Anmarsch ihres Mannes und Wiedersehen von Anna und Joachim (Bild 2)
Geburt Marias
Einführung Marias in den Tempel
Die Heiligen Petrus, Paulus, Johannes der Evangelist und Johannes der Täufer bilden unten rechts den Abschluss.
Der Moment des Wiedersehens und der Umarmung Annas und Joachims wird in der kirchlichen Kunst als Motiv zur Darstellung der Empfängnis der Muttergottes Maria herangezogen. Das Protoevangelium des Jakobus berichtet: Und siehe, Joachim kam mit seinen Herden gezogen, und Anna stand am Tor und sah Joachim kommen. Da lief sie und umarmte seinen Hals und sagte: „Jetzt weiß ich, dass der Herr Gott mich reichlich gesegnet hat. Denn siehe, die Witwe ist keine Witwe mehr, und ich Kinderlose soll schwanger werden.“
Dieses Ereignis wird auf einer russischen Ikone vom Ende des 16. Jahrhunderts mit besonderer Innigkeit wiedergegeben (Bild 3). In der Ostkirche wird das Fest der Empfängnis Mariens am 9. Dezember gefeiert, in der katholischen Kirche am 8. Dezember.
Lutz Rickelt - 8.12.2020
Gelebte Nächstenliebe – der heilige Nikolaus von Myra
Der heilige Nikolaus ist der beliebteste Heilige der gesamten Christenheit und versetzt jedes Jahr zum 6. Dezember die Kinderherzen in helle Aufregung. Doch ist es leider so, dass viele in unserer konsumgesteuerten Gesellschaft gar nicht mehr wissen, wer der Heilige überhaupt war und warum symbolisch über Nacht die Kinderstiefel «auf wundersame Weise» gefüllt werden.
Der kugelige Mann mit weißem Rauschebart und rotem Anzug – bisweilen kann dieser sogar lila sein oder er trägt Knallfarben mit Sonnenbrille – war in frühchristlicher Zeit Bischof von Myra, so wird es überliefert. Unzählige Legenden ranken sich seither um seine Gestalt, stets tritt er als wohltätiger Helfer, als Wundertäter und Retter in der Not auf. Er selbst soll aus wohlhabendem Hause gekommen sein, hatte seine Eltern jedoch früh verloren. Sein stattliches Erbe behielt der junge Nikolaus jedoch nicht für sich, nein, bevor er eine geistliche Laufbahn beschritt, verwendete er sein Geld, um anderen Menschen aus ihrer Not zu helfen. So berichtet eine Legende davon, wie er drei Jungfrauen davor bewahrte, in die Prostitution verkauft zu werden. Ihr verarmter Vater konnte sich keine standesgemäße Hochzeit leisten, denn die waren damals für die Familien von Töchtern kostspielig. Was tat Nikolaus? Er schlich sich dreimal des Nachts zum Haus der Familie und warf für jedes Mädchen einen Goldklumpen durchs Fenster, so dass der Vater sie gut vermählen konnte. Sogar Dante Aligheri erwähnt diese Wundertat des heiligen Nikolaus in seiner «Göttlichen Komödie» als Beispiel des Teilens und Gebens (Purgatorio, 20. Gesang).
Eine russische Buchmalerei des 18. Jahrhunderts aus dem Ikonen-Museum illustriert die Legende klar und anschaulich (Bild 1). Auf der rechten Seite sind die drei Mädchen auf ihrem Nachtlager zu sehen. Sie ruhen auf einem roten Kissen unter einer grünen Decke. Der Innenraum wird von einer großen Kuppel überfangen. Für den Betrachter wird hier bei der architektonischen Gestaltung der Miniatur die Abkehr der Ikonenmalerei von einer naturalistischen Zentralperspektive deutlich. Auf der linken Bildhälfte wird der heilige Nikolaus dargestellt. Er trägt das Bischofsornat – obwohl er der Überlieferung nach zu jener Zeit noch kein Bischof war – und ist im Begriff, den Beutel mit den Goldstücken durch das Schlafzimmerfenster zu werfen.
Eine kleine Tafel aus dem russischen Malerdorf Palech, die einst zu einer größeren Vita-Ikone aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehörte, gibt die Szene von der Rettung der drei Mädchen farbenfroh und viel bewegter wieder (Bild 2). Auch hier ist zu sehen, wie Nikolaus ein Säckchen ins Schlafzimmer wirft, während die drei Jungfrauen schlafen. Die Darstellung wird jedoch noch erweitert. Im Hintergrund ist der Heilige nochmal zu sehen. Ihm zu Füßen kniet der Vater der Mädchen ehrfürchtig. Denn es wird überliefert, dass der Vater in der dritten Nacht dem unbekannten Wohltäter auflauerte, um ihm zu danken.
Von naiver Ausdruckskraft sind die Hinterglasikonen Rumäniens – vielleicht hat der eine oder andere sie ja bereits im Ikonen-Museum entdeckt? Auch auf ihnen finden sich die von Nikolaus vor ihrem Verkauf geretteten Jungfrauen und ihr Vater wieder. ihnen finden sich die von Nikolaus vor ihrem Verkauf geretteten Jungfrauen und ihr Vater wieder. Eine Hinterglasmalerei aus der Mitte des 19. Jahrhunderts zeigt in gedeckten, ruhigen Farben mit leuchtenden roten Akzenten im Zentrum den stehenden Nikolaus mit zum Segen erhobener Rechten und einem geschlossenen Evangelienbuch in der linken Hand (Bild 3). Sein Ornat ist in Grau und Ocker mit roten Details gestaltet, auf dem Kopf trägt er eine hohe Mitra. Auf zwei Wolken schweben links und rechts von ihm Christus und die Gottesmutter heran, um ihm die Bischofsinsignien (Evangelienbuch und Omophorion) zu überreichen. Rechts neben Christus sind über einer Mauer grauen und roten Ziegelsteinen die drei Jungfrauen mit Lilien in den Händen und Braukränzen auf dem Kopf zu sehen, der Vater kniet zu seinen Füßen, vor sich das Säckchen mit den Goldstücken.
Der heilige Nikolaus ist ein Heiliger mit vielen Gesichtern. Viele Patronate und noch mehr Legenden und Volksbräuche bedienen sich seiner, unzählige Ikonen und religiöse Malereien zeugen von seiner Beliebtheit. Die Legende von den drei Jungfrauen rückt gerade in der Vorweihnachtszeit die Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe in den Vordergrund, die der heilige Bischof aus Myra beispielhaft gelebt hat und die wir in Zeiten des Konsums, der Abschottung und vielleicht auch Angst nicht vergessen sollten.
Ana Faye Bachmann, M.A. - 5.12.2020
Eine starke Frau – eine königliche Helferin
Katharina von Alexandrien
Griechisch (Kreta), 1. Hälfte 17. Jahrhundert, Eitempera auf Holz, 30 x 24,8 cm, erworben 1965, Inv. Nr. 619
Am 24. November wird in der Ostkirche der heiligen Katharina (russ. Ekaterina) gedacht. Sie gehört zu den am meisten verehrten heiligen Frauen der Christenheit und soll um das Jahr 307 in Alexandria als Märtyrerin gestorben sein. Der griechische Ursprung ihres Namens verweist auf ihre Jungfräulichkeit – er bedeutet in etwa „die ewig Reine“.
Viele Legenden ranken sich um ihr Leben, ja, es ist geradezu so, dass der ganze Katharinenkult nicht von einer Verehrung ihrer Gebeine an einem bestimmten Ort ausging, wie es bei zahlreichen Märtyrern der Fall ist, sondern auf den schriftlichen Überlieferungen, den Vita-Beschreibungen der Heiligen beruht.
Sie soll von königlicher Herkunft gewesen sein, möglicherweise die Tochter des Königs von Zypern. Deshalb ist sie auf Ikonen in der Regel in kostbaren Gewändern mit Krone zu sehen. Die Tafel aus dem Ikonen-Museum Recklinghausen entstand auf Kreta, einem wichtigen Zentrum der Ikonenmalerei. Hier mischten sich byzantinische Maltraditionen mit den neuen Errungenschaften der Renaissancemalerei. Hier verstand man es, Material und Beschaffenheit der Gewänder bis ins kleinste Detail ihrer Kostbarkeit darzustellen. Der Maler arbeitete mit einem Dreiklang sehr kontrastreicher Farben: schimmerndes Gold im Hintergrund und als Lichtgeber einzelner Details im Kontrast zu einem dunklen Schwarz, das auf Umhang, Lesepult, Sitzkissen und Boden wiederzufinden ist und wiederum mit einem leuchtenden Rot auf Gewand, Kreuz und einzelnen Büchern kontrastiert.
Über dem roten Gewand der Heiligen ist ein juwelenbesetzter Loros angebracht, ein langes, besticktes Tuch, das nur jemand von kaiserlicher Herkunft tragen durfte. Von ebenso erlesener Qualität ist Katharinas Mantel. Er ist mit Hermelin gefüttert und zeigt den doppelköpfigen byzantinischen Adler – wiederum ein Verweis auf Katharinas königliche Wurzeln.
Die Legenden berichten von ihrer Schönheit und insbesondere von ihrer außerordentlichen Belesenheit. Es heißt, sie hätte nicht nur Rhetorik, Philosophie und Medizin studiert, sondern auch 72 Sprachen gesprochen. Auf ihre besondere Bildung verweisen das Lesepult und die Bücher auf der Ikone, ebenso eine Armillarsphäre rechts auf dem Boden – das ist ein astronomisches Gerät zur Darstellung der Bewegung der Himmelskörper.
Die Legenden berichten auch von ihrem Martyrium. Dafür werden verschiedene Gründe überliefert. Zum einen heißt es, dass Katharina durch ihre Gelehrtheit fünfzig Philosophen davon überzeugte, sich zum Christentum zu bekehren, was Kaiser Maxentius, der zwischen 306 und 312 regierte, überaus missfiel. Eine andere Version ist die von Kaiser Maximian (286–306), der die schöne Katharina heiraten wollte, diese ihn jedoch als reine Jungfrau zurückwies.
Jedenfalls wurde sie qualvoll gemartert. Darauf verweist der Palmzweig in ihrer rechten Hand. Er ist das Attribut der frühchristlichen Märtyrer. Außerdem hält sie mit der Linken ein Märtyrerkreuz und ein Rad – ebenfalls Verweise auf ihr Schicksal, denn es heißt, dass man sie mit einem Rad sozusagen zerreißen wollte. Obwohl dies durch Engel verhindert werden konnte, wurde Katharina schließlich enthauptet. Der Überlieferung nach sollen ihre Gebeine von Engeln zum Berg Sinai getragen worden sein – hier fand man sie Jahrhunderte später und das ihr geweihte Katharinenkloster entstand.
Im christlichen Volksglauben ist die heilige Katharina äußerst populär: Im Westen gehört sie zu den Vierzehn Nothelfern und man spricht ihr zahlreiche Patronate zu, unter anderem gilt sie als Patronin der Schüler, Lehrer, Philosophen und auch Universitäten sowie als Beschützerin der Frauen und Mädchen. In letzter Funktion verehrt sie auch die orthodoxe Kirche. Sie soll über Verlobung und Hochzeit wachen. In Russland betet man darüber hinaus zu ihr, um eine schwere Geburt abzuwenden.
Die Recklinghäuser Ikone ist ein erlesenes Beispiel einer Darstellung der heiligen Katharina – einer willensstarken und gebildeten Frau.
Ana Faye Bachmann, M.A. - 24.11.2020
Der Teufel trägt Prada
Die Heiligen Kyprianos und Justinia mit 16 Szenen aus ihrem Leben
Zentralrussland (Palech), Ende 18. Jahrhundert, Eitempera auf Holz, 32 x 26,4 cm
Erworben 1999 durch eine Spende von Werner Löhr (Inv. Nr. 671)
Am 2. Oktober werde die beiden Heiligen Kyprianos und Justinia verehrt, deren miteinander verwobenes Schicksal in einer besonders interessanten Lebens-beschreibung erzählt wird. Die Recklinghäuser Ikone ist die einzige bisher bekannte, auf deren Rand sich eine ausführliche Schilderung ihres Lebens befindet und wurde von einem ausgezeichneten Palecher Maler um 1800 angefertigt.
Kyprianos war der Legende nach ein mächtiger Zauberer, der seit seiner Jugend die Kunst der Magie studierte und dabei neben Griechenland und Ägypten auch Persien bereiste und sich schließlich in Antiochia niederließ. Er soll so mächtig gewesen sein, dass er Dämonen beherrschte und sich mit Satan selbst unterhielt. Diese Unterhaltung ist im ersten Randfeld oben links dargestellt. Seine Macht wird in der fantastischen Szene daneben illustriert: Unten schreitet er über das Wasser, oben wird er von zwei Dämonen in einem Boot durch die Lüfte getragen (Detailbild 1). Rechts davon kommt nun Justinia ins Bild, die sich – ursprünglich Heidin – zusammen mit ihren Eltern taufen ließ, was hier zu sehen ist. Das nächste Bild zeigt sie im Bett ihres Elternhauses. Sie wird von dem links stehenden Jüngling Aglaides (oder Avgir) beobachtet, der bei ihrem Anblick der Fleischeslust verfällt – angedeutet durch den Dämon, der sich über die schlafende Justinia beugt. Im letzten Bild der oberen Reihe vertreibt sie den Dämon durch die Kraft ihres Gebets.
Aglaides wandte sich an Kyprianos, damit er durch seine Macht Justinia gefügig mache und sie seinem Heiratswunsch nachgebe. Kyprianos beauftragte einen mächtigen Dämonen mit der Verführung Justinias (zweite Reihe rechts), der wiederum durch ihr Gebet in die Flucht geschlagen wurde (in den schriftlichen Beschreibungen wird vor allem die Kraft des Kreuzzeichens betont, vor dem die teuflischen Dämonen fliehen müssen). Das gleiche geschah mit einem weiteren von Kyprianos gesandten Dämonen (zweite Reihe links). Nun nahm Satan die Sache selbst in die Hand und erschien Justinia in Gestalt einer Frau, um sie listenreich von den Vorzügen der Ehe zu überzeugen. Auf dem Bild sitzt eine gehörnte und geflügelte weibliche Gestalt Justinia im Gespräch gegenüber (dritte Reihe links, Detailbild 2). Ein schönes Detail sind die teuflischen Tatzen, die unter dem Gewandsaum hervorschauen. Nachdem Justinia auch dieses Mal standhaft blieb, geriet der Höllenfürst in Verlegenheit – drohte doch, seine erschütternde Machtlosigkeit offenbar zu werden. Er erschien nun dem Aglaides in Gestalt der Justinia, um ihn zu verführen (dritte Reihe rechts) - in der Hoffnung, dass dessen Begehren dann gestillt und die ganze Angelegenheit beendet werde. Doch als Aglaides erfreut ihre Namen ausrief, ertrug Satan den Klang ihres frommen Namens nicht und musste sich erneut zurückziehen.
Kyprianos erkannte nun die Machtlosigkeit der Mächte, denen er sein bisheriges Leben gewidmet hatte, beschimpfte Satan und wollte sich von ihm lossagen (vierte Reihe links). Der Teufel attackierte ihn (vierte Reihe rechts), doch Kyprianos rief ebenfalls nach Justinia und besiegte ihn durch die Nennung ihres Namens. Daraufhin bereute er vor dem Bischof seine Sünden, wurde Christ und verbrannte seine Bücher in aller Öffentlichkeit (unten links).
Später wurde er zum Bischof von Antiochia geweiht (rechts anschließend). Während der Christenverfolgung durch Diokletian wurde Kyprianos gekreuzigt und Justinia enthauptet, was auf den letzten drei Bildern des unteren Randes dargestellt ist.
Dieser spannenden und künstlerisch herausragenden Ikone ist eine eigene Abhandlung von Michail Krasilin gewidmet, die im Ikonen-Museum erhältlich ist (siehe hier).
Lutz Rickelt, 30.09.2020
Ein wertvolles Geschenk für die Stadt Recklinghausen
Überlegungen zur Bedeutung privater Sammler*innen für das Ikonen-Museum
Im letzten Jahr hat der Ikonensammler Dr. Reiner Zerlin der Stadt Recklinghausen und ihrem Ikonen-Museum eine bemerkenswerte Schenkung von fast 250 Ikonen gemacht, welche derzeit in der Kunsthalle Recklinghausen ausgestellt wird. Ein Grund, über die Bedeutung privater Sammler für das Ikonen-Museum nachzudenken.
Die im Text erwähnten Bilder befinden sich unten in der Bildergalerie.
Was hat es mit dem Sammeln auf sich?
Sammeln liegt in der Natur des Menschen, man kann es als anthropogenen Prozess bezeichnen. Schon früheste archäologische Funde dokumentieren den Drang des Menschen, besondere Objekte von ideellem oder ästhetischem Wert zu sammeln und manchmal auch zu präsentieren. Besonders anschaulich wird dies anhand fürstlicher Höfe und großbürgerlicher Familiendynastien der Renaissance. Es gehörte geradezu zum guten Ton, eine Kunst- oder auch Wunderkammer einzurichten. Von da aus war es nur noch ein kleiner Schritt zur Öffnung verschiedener privater Sammlungen zum Zweck der Lehre und natürlich der Selbstpräsentation. Ich denke da an die Schausammlung des Collegio Romano im Vatikan oder an die Sammlung der berühmten Medici, die seit den 1580er Jahren in den Uffizien ausgestellt wurde – um nur zwei der prominentesten Beispiele zu nennen.
Beobachtet man den Verlauf der Geschichte weiter, wird deutlich, dass das Sammeln von Antiquitäten und Naturalien, von Büchern, Graphiken und Kunstwerken stetig zugenommen hat, ebenso das Anliegen, die eigenen Kostbarkeiten öffentlich zu präsentieren oder sie für einen lehrreichen Zweck zur Verfügung zu stellen. In Kassel eröffnete 1779 das Fridericianum, ein erstes für die allgemeine Öffentlichkeit gegründetes Museum, das die vom hessischen Landgrafen Friedrich II. zusammengetragenen Kunstobjekte beherbergte. Entwicklungsgeschichtlich setzt hier, im 18. Jahrhundert, ein Prozess ein, der letztendlich darauf drängt, Besitz und Bildung nicht nur einer elitären Minderheit zuzugestehen – er kulminierte erstmals in der Französischen Revolution, die bei aller Zerstörung, ebenso wie noch zukünftige Revolutionen, Anstoß für bedeutende Museumsgründungen war.
Doch ich schweife ab …
Wo finden wir in Deutschland Ikonen in frühen privaten Sammlungen?
Im 19. Jahrhundert haben Museumsgründungen geradezu Hochkonjunktur. Und nicht wenige dieser Museen verdanken ihren Grundstock sorgfältig zusammengestellter Kollektionen einzelner Privatpersonen. Als Fundament für die Königliche Gemäldesammlung zu Berlin kaufte der Staat 1821 zum Beispiel über 3000 Gemälde aus der Sammlung des englischen Kaufmanns Edward Solly (1776–1845). Das war eine beeindruckende Kollektion und ein großer Ankauf. Sogar Goethe, der selbst ein passionierter Sammler war, und andere prominente Persönlichkeiten korrespondierten über dieses Ereignis. Unter den Bildern befand sich auch eine Gruppe vornehmlich griechischer und kretischer Ikonen von teils hochrangigem Wert. Ein Teil der Ikonen aus der Sammlung Solly ist seit 1999 als Dauerleihgabe im Ikonenmuseum Frankfurt zu sehen. In Altenburg machte der Politiker, Gelehrte und Kunstsammler Bernhard August von Lindenau (1779–1854) seit 1848 seine private Sammlung öffentlich zugänglich. Auch er besaß ausgewählte Tafeln im italo-griechischen Stil.
Wie kam die russische Ikone nach Deutschland?
Etwa Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckte man in Russland die Ikone neu. Man begann, die Ikone nicht nur als religiöses Kultobjekt, sondern auch als begehrtes Sammlerstück zu betrachten. Und hier beginnt meines Erachtens die eigentliche Geschichte des Ikonensammelns, wobei das Sammeln und Erforschen der Ikone vor der Oktoberrevolution stark von der Kirche und noch mehr vom Geschmack privater Sammler bestimmt wurde. Es waren vorrangig Ikonenliebhaber wie Stepan Rjabušinskij (1874–1942), Il’ja Ostrouchov (1858–1929) oder Nikolaj Lichačev (1862‒1936), die eine treibende Kraft auf diesem Gebiet waren, Restauratoren engagierten, Ausstellungen organisierten – sie beteiligten sich aktiv an einer Erforschung und Popularisierung der Ikone als Kunstwerk.
Mit der Revolution änderte sich die Lage der Kirche sowie privater Sammler gleichsam über Nacht. Die Erforschung und Restaurierung der Ikonenmalerei wurde jedoch vorangetrieben, und dies auf einem hohen wissenschaftlichen Niveau, das nun weder von der Kirche noch einzelnen Sammlerpersönlichkeiten bestimmt wurde. Der neue Sowjetstaat verfolgte ein Projekt. Er suchte nicht nur nach einem autonomen Fundament der eigenen kulturellen Identität, sondern wollte mit einer riesigen Kampagne den westlichen Kunstmarkt begeistern für die unzähligen Ikonenschätze, die durch Enteignungen in den Museums-Depots gelandet waren. Ein neuer Wirtschaftszweig sollte so für die Durchführung der eigenen idealisierten Ziele aufgebaut werden. Also organisierte man 1929 eine große Internationale Ikonenausstellung, welche in Berlin eröffnet wurde und dann in verschiedenen deutschen Städten, in Wien, London und dann in Amerika zu sehen war.
Obwohl nicht sofort, so eroberte die Kunst der Ostkirche nach und nach den westlichen Kunstmarkt und Privatsammler in Deutschland, vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg. Denn viele der späteren Sammler waren durch ihren Dienst an der Front in Kontakt mit dieser faszinierenden, im Glauben Trost spendenden Kunst gekommen; andere entdeckten sie im Zuge der Ikonenausstellungen, die seit der Nachkriegszeit in Deutschland gezeigt wurden – organisiert von Dr. Heinrich Wendt (1901–1956), einem Ikonensammler, der für das Ikonen-Museum Recklinghausen noch große Bedeutung haben sollte (Bild 1).
Der private Sammler – Impulsgeber für die Gründung des Ikonen-Museums
Der Erfolg dieser Ikonenausstellungen ließ auch bei der Leitung der Kunsthalle Recklinghausen den Wunsch reifen, eine solche Schau im eigenen Haus zu veranstalten. Wer hätte da geahnt, dass daraus schließlich ein so bedeutendes Museum der ostkirchlichen Kunst in Recklinghausen entstehen würde! Aber so war es tatsächlich: Anfang 1955 zeigte die Kunsthalle eine Ikonenausstellung mit verschiedenen privaten Leihgaben aus Deutschland, die beim Publikum überaus erfolgreich war. Thomas Grochowiak (1914–2012), der damalige Direktor der Kunsthalle, erfuhr damals, dass Dr. Heinrich Wendt und Prof. Dr. Martin Winkler (1893–1982), zwei der bedeutendsten Ikonensammler und Leihgeber für die Ausstellung ihre Sammlungen verkaufen wollten (Bild 2: Ikone aus der Sammlung Winkler). Diese Information führte bei Grochowiak zu der Idee, ein Ikonen-Museum für die Stadt Recklinghausen zu gründen eine Idee, die er mit Engagement und Durchsetzungsvermögen in die Tat umsetzte.
So wurde im Sommer 1956 das Ikonen-Museum Recklinghausen eröffnet. Der Grundstock von 74 Ikonen aus den oben genannten Sammlungen war bis dahin bereits um 150 Exponate, ebenfalls teils aus Privatbesitz, erweitert worden. Bis heute sind es fast 4000 Objekte geworden, die zum Inventar dieses überaus bedeutenden und besonderen Museums zählen. Während der Bestand des Ikonen-Museums in den ersten Dezennien durch Ankäufe aus verschiedenen Kollektionen gebildet und erweitert worden ist, veränderte sich die Situation etwa seit den 1990er Jahren durch das Wegfallen wichtiger finanzieller Mittel. An diesem Punkt spielte wiederum der private Sammler, seine Passion für die Kunst der Ostkirche und ihre sachgemäße Aufbewahrung und wissenschaftliche Aufarbeitung sowie Popularisierung eine große Rolle. Denn seitdem kamen glücklicherweise immer mehr Schenkungen und Nachlässe dem Museum zugute, die häufig von Mitgliedern des Fördervereins des Ikonen-Museum EIKON. Gesellschaft der Freunde der Ikonenkunst e.V. kamen.
Eine Reise in die Welt des Sammlers
Manche der privaten Sammler werden namentlich genannt. Dies hat mich immer dazu inspiriert, weiter nachzuforschen, es macht das Museum lebendig und füllt es mit Geschichten: Wer war der Sammler? Woher hatte er die Ikone einst bekommen? Warum entschied er sich bei einem Kauf genau für diese Ikone? Oder war es ein Geschenk? Gibt es Fotos vom Sammler? Viele Fragen bleiben natürlich unbeantwortet. Doch manche Namen geben etwas Persönliches von sich preis, nehmen einen mit auf eine Reise in die Welt des Sammlers. Zweifellos gehören Martin Winkler und Heinrich Wendt zu den Sammlern, über die am meisten zu erfahren ist. Aber auch die aus Wien stammende Kunsthistorikerin Fannina Halle (1881–1963), die 1957 zehn Ikonen an das Ikonen-Museum verkaufte, ist eine faszinierende Persönlichkeit. Ebenso der Kunsthändler Alexander Popoff (1885–1965), aus dessen Nachlass 50 Ikonen für das Ikonen-Museum angekauft wurden (Bild 3).
Die Sammlung Dr. Reiner Zerlin
Nun ist im letzten Jahr eine bedeutende Sammlung zum Bestand des Ikonen-Museums hinzugekommen. Dr. Reiner Zerlin (*1939) hat der Stadt Recklinghausen und ihrem Ikonen-Museum ein unglaublich wertvolles Geschenk gemacht! Etwa 250 Objekte der ostkirchlichen Kunst, davon fast 170 Ikonen auf Holztafeln aus der Zeit zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert, gab Zerlin in die Obhut des Ikonen-Museums. Die Ikonen der Sammlung Zerlin zeugen von der Leidenschaft des Sammlers für die Bildwelt der Ostkirche, für ihre Geschichte und ihren Ritus, für ihre besondere Ästhetik und Spiritualität – Ikonen als lebendige Wächter über die gläubige Verehrung. Reiner Zerlins Bruder Jochen verriet in einem Interview, dass eine fein gemalte russische Ikone des Erzengels Michael aus dem 16. Jahrhundert eins der Lieblingsstücke des Sammlers ist (Bild 4). Sie ist mit einem kostbaren Silberbasma versehen, dessen buntes, florales Muster aus Emaille einen kontrastreichen Blickfang zur Malerei bildet. Als ein Herzstück der Sammlung begrüßt die Ikone den Besucher der derzeitigen Ausstellung der Sammlung Zerlin in der Kunsthalle Recklinghausen im Erdgeschoss. Sie ist eine Einladung für einen Streifzug durch die vielfältige Welt der Ikonen, zu dem diese erlesene Sammlung den Besucher einlädt.
Ana Faye Bachmann, M.A.
An die Kette gelegt: Heilige Helfer gegen Epidemien
Die Verbreitung des neuartigen Corona-Virus COVID-19 ruft momentan der modernen Welt ihre Verletzlichkeit ins Gedächtnis. Gerade im Bewusstsein der westlichen Welt mit ihren vergleichsweise hochentwickelten medizinischen Vorsorgekapazitäten war die Angst vor endemischen Krankheiten und Seuchen eher gering ausgeprägt und wurde von den meisten Menschen wohl in erster Linie mit dem finsteren Mittelalter verknüpft. Bis ins 20. Jahrhundert hinein gehörte diese Sorge allerdings zum alltäglichen Leben und wurde in Zeiten der Not oder der äußeren Bedrohung umso stärker. Man suchte nach himmlischen Zeichen des Unheils – und nach Mitteln, dieses abzuwehren. Dazu gehörten auch Heilige und ihre Ikonen, die im Kampf gegen die Pest oder Cholera oft eine prominente Rolle einnahmen. Einige möchten wir Ihnen vorstellen. Die Bilder mit den dazugehörigen Informationen finden Sie in der Bildergalerie unterhalb des Textes (zum Start auf eines der Bilder klicken).
Zu Beginn werfen wir einen kurzen Blick auf eine bekannte Ikone aus Novgorod (Bild 1). Sie zeigt eine Vision des Kirchendieners Tarasius vom Untergang der Stadt. Rechts erhebt sich dunkel der Ilmensee in einer riesigen Welle und schickt sich an, alles zu verschlingen; eine rote Wolke aus Feuer schwebt drohend über der Stadt. Von der detailreichen und überaus vielschichtigen Darstellung interessieren uns besonders die feurigen Pfeile, die von Engeln aus den himmlischen Wolken auf die Bewohner der Stadt abgeschossen werden: Ein mittelalterliches Symbol für die Pest.
Hl. Charalampos
Wie schützte man sich nun vor der Pest oder ähnlichen Gefahren? Man rief darauf spezialisierte Heilige an und beschaffte sich ihre Ikonen. Der wichtigste Pestheilige der Ostkirche ist der heilige Charalampos von Magnesia. Er soll schon während seines Prozesses – der mit seinem Martyrium endete – mehrere Heilungswunder vollbracht haben und unter anderem auch die Frau des Kaisers Septimius Severus geheilt haben. Aus diesem Grund wird er als Schutzpatron gegen Pest, Cholera und Viehseuchen verehrt; entsprechend stieg die Nachfrage nach seinen Ikonen bei Ausbrüchen von Seuchen an. Er wird hier im Bischofsornat dargestellt, zu seinen Füßen liegt eine niedergeworfene, gehörnte Gestalt mit einer Sense (2): Der pestbringende Dämon wird vom triumphierenden Heiligen buchstäblich an die Kette gelegt.
Hl. Sissinios
Vergleichsweise selten sind Ikonen mit dem heiligen Sissinios von Kyzikos (von denen wir leider auch keine in unserer Sammlung besitzen). Es heißt, dass Sissinios Dämonen zur Preisgabe ihrer geheimen Namen zu zwingen vermochte und auf diese Weise Macht über sie erlangte. Einst soll er am Meer über das Wasser kommende Fieberdämonen erspäht und Gott um Hilfe angerufen haben. Der Erzengel Sikhael kam herbei und vertrieb die Dämonen (Sikhael wird in einem Moses zugeschriebenen magischen Text über die Erzengel als Herr über Schüttelfrost und Fieber angerufen). Auf Ikonen ist oft Michael dargestellt, der die Dämonen mit einem Speer in die Unterwelt hinabstößt, während Sissinios betend daneben steht. Diese Ikonen sollen Haushalte vor Fieberkrankheiten und der Pest schützen, im Umlauf waren auch entsprechende Amulette und magische Gebetsformeln.
Hl. Spyridon
Häufig wandten sich die Menschen einer durch die Pest bedrohten Region natürlich an ihren lokalen Schutzpatron. Ein Beispiel dafür ist der hl. Spyridon, der Schutzheilige Korfus. Er soll die Insel mehrfach vor der Pest bewahrt haben. Auf der Ikone (3) ist der Schrein im Kircheninneren dargestellt, in welchem der Leichnam des Heiligen als Ganzkörperreliquie verwahrt und präsentiert wird. An zwei speziellen Feiertagen zur Erinnerung an das wundersame Eingreifen des Heiligen wird dieser Schrein auch heutzutage in einer feierlichen Prozession durch die Straßen getragen: Am Palmsonntag (Rettung vor der Pest 1630) und am ersten Sonntag im November (Rettung vor der Pest 1673).
Muttergottesikonen
Diese Pestausbrüche gehörten zur sogenannten zweiten Pandemie, die Europa im 17. und 18. Jahrhundert wiederholt heimsuchte und auch in Russland wütete, vor allem in den Jahren 1654/55 und 1771. Bei der Bewältigung dieser Epidemie spielten Muttergottesikonen eine wichtige Rolle. Sie waren generell wichtige Ansprechpartner für die Heilung von schweren Krankheiten und aus diesem Grund in Zeiten der Pest besonders gefragt. Stellvertretend dafür steht die Ikone der Muttergottes „Lindere meinen Kummer“, auf der sich Maria mit der rechten Hand eine Träne von der Wange wischt (4).
Die Ikone der Muttergottes Jugskij-Kloster (Jugskaja), benannt nach einem Fluss im Nordwesten Russlands, soll die Region vor der Pest des Jahres 1654 bewahrt haben. Bei diesem Typus (5) handelt es sich um eine Variante der Iverskaja. Eine Variante der Muttergottes von Smolensk heißt Muttergottes der „Sieben Seen“ (Sedmiezernaja). Der Titel bezieht sich auf den Aufbewahrungsort dieser Ikone in einem Kloster, das sich in einer von sieben Seen umgebenen Wildnis bei Kasan befand. Als Kasan 1654 von der Pest getroffen wurde, brachten die Bewohner die bereits für ihre Wunder bekannte Ikone in die Stadt, woraufhin die Epidemie nachließ. Später sahen die Menschen, dass die rechte Hand der Muttergottes – die bei der Smolenskaja auf das Kind weist – ihre Position verändert hatte und nun im Segensgestus aufgerichtet war. Auch als die Pest im Jahr 1771 erneut auftrat, wurde die Ikone in die Stadt geholt und soll das Ende der Epidemie bewirkt haben.
Die Ikone der Muttergottes von Kaluga wurde der Legende nach 1748 in einem Dorf in der Nähe der Stadt gefunden. Sie zeigt Maria, die in einem aufgeschlagenen Buch liest (6) – deshalb hielt man die Ikone zunächst für die Darstellung einer Nonne. Nachdem man die Muttergottes erkannt hatte, brachte man die Ikone in die Kirche der Geburt Mariens in Kaluga. Als 1771 die Pest die Stadt erreichte, wurde auch diese Ikone in Bittprozessionen durch die Straßen getragen. Und auch hier soll der Krankheit durch die Ikone Einhalt geboten worden sein. Diesem Ereignis ist ein spezieller Festtag am 12. Oktober gewidmet.
In Moskau spielten Ikonen bei beiden Pestausbrüchen 1654 und 1771 eine Rolle. im Sommer 1654 begann der Patriarch Nikon eine Kampagne gegen Ikonen, die von der althergebrachten Maltradition abwichen; besonders Einflüsse aus der westlichen, katholischen Kunst waren ihm ein Dorn im Auge. Er ließ Nachforschungen in der Stadt anstellen und die entsprechenden Ikonen beschlagnahmen, öffentlich zur Schau stellen und zerschlagen. Bei der Bevölkerung kam die Zerstörung so vieler Ikonen allerdings nicht gut an; als kurz darauf die Pest ausbrach, deutete man sie als Strafe Gottes für das Vorgehen des Patriarchen gegen die heiligen Bilder. Die folgenden Unruhen zwangen Nikon dazu, die Aktion zu beenden (obgleich er sie im nächsten Jahr wiederaufnahm). Weniger glimpflich verliefen die Ausschreitungen während der sogenannten Moskauer Pestrevolte 1771, zu der eine Ikone des Typus der Muttergottes von Bogoljubovo (7) den Anlass gab. Im Zuge der Pestwelle in diesem Jahr soll Moskau die Hälfte seiner Einwohner verloren haben; die öffentlichen Schutzmaßnahmen (zu denen auch ein Versammlungsverbot und die Quarantäne der Erkrankten in ihren Häusern gehörten) hatten wenig Erfolg. Nach der Vision eines Arbeiters wandte sich die einfache Bevölkerung an die Ikone der Bogoljubskaja um Hilfe. Dass sich die Menschen an diese Ikone wandten, hängt vermutlich mit der Darstellung des demütig knienden Beters (Großfürst Andrej Bogoljubskij, 1157-1174) zusammen, für den die Muttergottes bei Christus Fürbitte einlegt. Die sich bei der Ikone versammelnden Menschenmengen erhöhten das Infektionsrisiko allerdings enorm, woraufhin Regierung und Erzbischof die Ikone aus ihrer Kapelle unweit des Kremls entfernen lassen wollten. Dies löste einen gewalttätigen Aufstand der Bevölkerung aus, die in diesem Akt einen Raubversuch vermutete und den Erzbischof schließlich lynchte.
Bei dem Motiv der Muttergottes der sieben Schmerzen (Bild 8) wird ihr Herz von sieben Schwertern durchbohrt, zurückgehend auf die Prophezeiung des Simeon bei der Darbringung Christi im Tempel gegenüber Maria: „Deine Seele wird ein Schwert durchdringen. So sollen die Gedanken vieler Herzen offenbar werden“ (Lk 2:35). Der Legende nach fand ein Bauer das Urbild dieser Ikone als Bodenbrett in der Kirche des Hl. Johannes des Theologen außerhalb von Vologda. Während einer Cholera-Epidemie im Jahr 1830/31 führte die Bevölkerung die Ikone in einer Bittprozession durch die Stadt. Dass danach die Zahl der Kranken zurückging und die Epidemie schließlich endete, schrieb man dem wundertätigen Wirken der Ikone zu.
Die Ikonen 2, 4 und 7 werden in der Ausstellung „Pest! Eine Spurensuche“ des LWL-Museums für Archäologie in Herne (20. September 2019 – 10. Mai 2020) gezeigt, die momentan ebenfalls geschlossen ist. Der umfangreiche Katalog (https://pest-ausstellung.lwl.org/de/publikationen/) ist im Buchhandel erhältlich – unterstützen Sie bei einem eventuellen Kauf bitte Ihre lokalen Buchhändler, von denen viele trotz der Schließung ihrer Ladenlokale mit großem Einsatz für Ihre Kunden tätig sind.
Bleiben Sie gesund!
Eine Ikone eines bisher unbekannten Malers
Eine Ikone mit den drei Heiligen der Ionischen Inseln
Gerasimos von Kephalonia, Spyridon von Korfu und Dionysios von Zakynthos
Griechenland (Ionische Inseln), 1859
Eitempera auf Holz, 113,4 x 83,0 cm
Geschenk des Fördervereins Ikonen-Museum Recklinghausen e.V. 2018
Inv.-Nr. 669
Die 2018 dem Museum geschenkte Ikone der drei Ionischen Heiligen ist von großer Qualität. Sie wurde im Jahr 1859 höchstwahrscheinlich auf den Ionischen Inseln angefertigt. Diese Inselgruppe wurde im 13. Jahrhundert der byzantinischen Herrschaft entzogen und gehörte vom 14. bis 18. Jahrhundert zu Venedig. Nach französischen und russischen Intermezzi wurde sie 1809 britisch und 1864 schließlich dem jungen griechischen Staat eingegliedert. Im Bereich der Kunst trafen hier zwei Strömungen aufeinander, die byzantinisch-kretische und die italienische (Spätrenaissance, Barock, Rokoko). Im Laufe des 18. Jahrhunderts setzte sich der italienische Einfluss immer mehr durch, wenngleich insbesondere in der Ikonenmalerei traditionelle Malweisen nie verdrängt wurden. Eine wichtige Rolle kam hier kretischen Malern zu, die im Zuge der zunehmenden Bedrohung Kretas durch die Osmanen im 17. Jahrhundert (endgültige Eroberung 1669) auf die Ionischen Inseln flohen, sich dort niederließen und arbeiteten.
Die Heiligen
Bei den drei dargestellten Heiligen handelt es sich um die Schutzpatrone der drei größten Inseln (Korfu, Zakynthos, Kephalonia). Der heilige Spyridon (ca. 270–350) kam als Hirte auf Zypern zur Welt und wirkte dort als Bischof. Angesichts der arabischen Teileroberung Zyperns brachte man seine Reliquien Ende des 7. Jahrhunderts nach Konstantinopel in Sicherheit. Nach dem Fall der Stadt im Jahr 1453 gelangten sie nach Korfu, wo sie in einer dem Heiligen geweihten Kirche verehrt werden. Sein offizieller Gedenktag ist der 12. Dezember, der Schrein wird aber auch an vier anderen Feiertagen zur Erinnerung an das wundersame Eingreifen des Heiligen zugunsten Korfus in feierlicher Prozession durch die Straßen getragen: Am Palmsonntag (Rettung vor der Pest, 1630), Karsamstag (Abwendung einer Hungersnot, 1553), 11. August (Ende einer osmanischen Belagerung, 1716) und am ersten Sonntag im November (Rettung vor der Pest, 1673).
Gerasimos (1509–1579) gehörte zur Familie Notaras, einer der bedeutendsten aristokratischen Familien im späten Byzanz, die auch in nachbyzantinischer Zeit einflussreich blieb. Gerasimos hielt sich längere Zeit in Konstantinopel, auf dem Athos (hier wurde er Mönch) und in Jerusalem auf, wo er für etwa zehn Jahre in der Anastasis-Kirche am Grab Christi als Küster Dienst tat. Nach seiner Rückkehr gründete er 1561 auf Kephalonia ein Kloster mit dem Namen „Neues Jerusalem“. Heute ist dieses Kloster dem Heiligen Gerasimos geweiht, dessen Gebeine dort verehrt werden. 1622 wurde er durch die Synode von Konstantinopel heiliggesprochen. Gerasimos wird am 16. August und am 20. Oktober verehrt (an diesem Tag öffnete man im Jahr 1851 den Sarkophag und fand seine sterblichen Überreste intakt und unversehrt vor).
Dionysios von Zakynthos (1547–1624) war ebenfalls Sohn aristokratischer Eltern. 1568 wurde er Mönch, 1570 Priester. Als er sich 1577 während einer Pilgerreise ins Heilige Land in Athen aufhielt, weihte ihn der Athener Erzbischof zum Bischof der Inseln Ägina und Poros. Er hielt sich nicht lange auf den Inseln auf, sondern kehrte schon 1579 nach Zakynthos zurück. 1624 starb er und wurde auf der Strophadeninsel Stamphani beigesetzt. Im Jahr 1717 überführte man seinen Sarkophag nach Zakynthos, wo er sich bis heute in der dem Heiligen geweihten Kirche befindet. Dionysios wurde 1703 heiliggesprochen und wird vor allem aufgrund von Krankenheilungen verehrt. Seine Feiertage sind der 17. Dezember und der 24. August (Überführung seiner Reliquien nach Zakynthos)
Allen drei Heiligen ist gemein, dass sie als Ganzkörperreliquien erhalten sind. Ihre Leichname wurden unverwest und wohlduftend vorgefunden, was in der hagiographischen Literatur ein wiederkehrendes Zeichen für Heiligkeit und wunderwirkende Kräfte ist. Die Reliquien werden in Schreinen mit gläsernen Sichtfenstern verwahrt. Auch heute noch werden während der jeweiligen Festtagsprozessionen Wunderheilungen verzeichnet.
Die Ikone
Die Ikone ist von einem schwarzen Streifen umrahmt. Daran schließt sich ein roter Streifen an, über den sich mit goldener und rötlich-brauner Farbe gemalte Blattranken ziehen, die ins Bildfeld hineinreichen. Diese Bordüre imitiert barocke Ikonenrahmen aus Holz, die (nicht nur) auf den Ionischen Inseln oft vorkommen. Die Ionischen Heiligen sind als Dreiergruppe angeordnet: In der Mitte befindet sich Spyridon, aus Betrachterperspektive links Gerasimos und rechts Dionysios. Alle drei sind durch goldene Namensbeischriften auf dem grünblauen Hintergrund identifiziert. Am unteren Rand der Ikone befindet sich eine Inschrift mit den Namen der Stifter, einer Datumsangabe und der Signatur des Malers: „Gebet/Fürbitte der Diener Gottes Demetrios Romas und Demetrios Rizos. 2. April 1859. Durch die Hand des Philippos Hagiotaphites.“ Weder Stifterfamilie noch Maler sind bisher bekannt.
Spyridon ist an seinem ‚Markenzeichen‘ stets gut zu erkennen, der korbartigen Hirtenkappe. Gerasimos und Dionysios tragen eine schwarze Kapuze, das Epanokalymmauchon hochrangiger Mönche, das auf Ikonen auch bei der Darstellung von Bischöfen aus dem Mönchsstand verwendet wird. Die würdevollen Gesichter und die Bärte aller drei Heiligen sind mit größter Sorgfalt ausgeführt und zeigen in besonderem Maße das künstlerische Können des Malers. Spyridon und Dionysios tragen ihrem Weihegrad entsprechend bischöfliche Gewänder und Insignien. Auf ihren Schultern liegt das mit Kreuzen geschmückte Omophorion, vor der Brust tragen beide ein ovales, schmuckumrahmtes Medaillon, auf denen die Apostel Petros (bei Spyridon) und Paulos (bei Dionysios) als Halbfiguren abgebildet sind. Auf dem unter dem Mantel getragenen Epitrachelion (die priesterliche Stola) des Spyridon sind drei weitere, unbeschriftete Heiligenfiguren (Apostel oder Propheten) zu sehen. Auf dem rautenförmigen, unterhalb der rechten Hüfte getragenen Epigonation ist bei Spyridon der nach beiden Seiten segnende Christus, bei Dionysios und Gerasimos ein Seraph oder Cherub dargestellt. Spyridon und Dionysios halten in der linken Hand das Evangelium, welches im Falle des Dionysios mit der Abbildung eines heiligen Bischofs in einem ovalen Bildfeld auf dem Buchrücken versehen ist.
Spyridon hält in der rechten Hand einen kleinen, rechteckigen Gegenstand, aus dem oben Flammen züngeln und unten Wassertropfen herabfallen. Es handelt sich um den Verweis auf eines seiner bekanntesten Wunder: Spyridon nahm am ersten ökumenischen Konzil von Nikaia im Jahr 325 teil, auf dem unter dem Vorsitz Kaiser Konstantins über die Natur Christi und die Dreifaltigkeit gestritten wurde. Um letztere zu versinnbildlichen, nahm Spyridon einen Tonziegel in die Hand und ließ daraus Feuer und Wasser entspringen: So wie der gebrannte Ziegel ein einziges Objekt sei, das aber aus drei Elementen bestehe (Erde, Wasser, Feuer), gebe es auch drei Hypostasen des einen Gottes.
Der als Mönch gekleidete Gerasimos hält anstelle des Evangeliums eine geöffnete Schriftrolle mit folgendem Text in griechischer Sprache: „Nicht, wenn wir die Sünde begehen, werden wir Sünder, sondern wenn wir sie nicht hassen und [keine] Reue über sie empfinden.“ Dabei handelt es sich um ein Zitat aus den Schriften des Heiligen Isaakios von Ninive (ca. 640–700). Diesen Text habe ich bisher auf keiner anderen Ikone des Gerasimos gefunden.
Über dem Kopf Spyridons ist eine weitere Szene dargestellt: Die Krönung Marias durch die Dreifaltigkeit in einem Himmelssegment, ein westliches Bildthema, das in dieser Form im 15. Jahrhundert entwickelt wurde. In Regionen unter abendländischem Einfluss wurde es manchmal von orthodoxen Ikonenmalern aufgenommen, auch auf den Ionischen Inseln befinden sich weitere Beispiele aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Ansonsten knüpft die Ikonographie der Ikone an Maltraditionen an, die sich seit dem späteren 16. Jahrhundert vor allem unter dem Einfluss kretischer Künstler etablierten und von den lokalen Malern weiterentwickelt wurden.
Der Maler
Der Maler Philippos Hagiotaphites ist bisher unbekannt. Sein Name verweist auf eine Beziehung zum Heiligen Grab in Jerusalem (Hagios Taphos). Das Epitheton „Hagiotaphites“ führten und führen die Kleriker des griechisch-orthodoxen Patriarchats in Jerusalem, die sich in der „Heiligen Bruderschaft des Heiligen Grabes“ (Hiera hagiotaphitikē Adelphotēs) zusammengeschlossen haben. Wann und aus welchem Grund Philippos Jerusalem verließ, lässt sich leider nicht sagen. Ein Metochion (Dependance) des Patriarchats auf den Ionischen Inseln ist soweit ich sehe nicht bekannt (man denke etwa an Ieremias Palladas, einen Priestermönch des Sinai-Klosters, der Anfang des 17. Jahrhunderts im Metochion seines Klosters auf Kreta als Ikonenmaler wirkte). Die Hypothese, dass er das Heilige Land im Zuge der schweren Krise des Patriarchats in den 1820er Jahren verlassen haben könnte, wäre allzu spekulativ. Da ihm die Vita des Gerasimos sicherlich gut bekannt war, ist eine Verbindung zum Kloster dieses Heiligen zumindest denkbar: Gerasimos zählte als ehemaliger Küster der Grabeskirche ebenfalls zu den Hagiotaphiten und hatte sein Kloster „Neues Jerusalem“ genannt. Was lässt sich sonst über den Maler sagen? Nach Ausweis seiner Ikone war er ein eher konservativer Maler, der sich auf Vorbilder aus dem 17. und dem 18. Jahrhundert bezog. In der feinen, realistischen Malweise der Gesichter und Bärte folgt er einem stilistischen Trend, der verstärkt im 19. Jahrhundert zu beobachten ist. Philippos malte seine Ikone traditionell, nahm aber fremde Einflüsse auf und befand sich im Detail durchaus am Puls der Zeit. Die Ikone ist zweifellos ein herausragendes Zeugnis der Ionischen Ikonenmalerei des 19. Jahrhunderts.
Die Taufe Christi
Girgis Al Musawwir (zugeschr.)
Syrien (Aleppo), 2. Hälfte 18. Jahrhundert
Eitempera auf Zedernholz, 35,3 x 27,5cm
Ankauf 2013 (Inv.-Nr. 3767)
Nach dem Bericht der vier Evangelien wurde Christus im Jordan durch Johannes den Täufer getauft, wobei der Heilige Geist in Gestalt einer Taube erschien und eine Stimme vom Himmel herab die Worte sprach: „Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe“ (bei Joh 1:29-34 fehlt die himmlische Stimme, hier ist es Johannes selbst, der bezeugt: „Dieser ist der Sohn Gottes“). In diesen Worten sieht die Kirche die erste Offenbarung des göttlichen Wesens Christi. Deshalb nennt man das Fest der Taufe am 6. Januar Theophanie, die Erscheinung Gottes, der sich hier zudem in seinen drei Hypostasen offenbarte: Vater, Sohn, Heiliger Geist.
Die Ikonographie der Darstellung auf Ikonen variiert in ihren Grundzügen nur wenig (Bild 1). In der Mitte der Ikone steht Christus in dem von hoch aufragenden Felsen begrenzten Jordanfluss. Er ist nur mit einem Lendentuch bekleidet (er konnte auch nackt, aber ohne Genitalien gezeigt werden. Eine diesbezügliche Ausnahme stellen die Kuppelmosaike der beiden Baptisterien von Ravenna aus dem 5. Jahrhundert dar, in denen noch die spätantike, hellenistische Kunsttradition lebendig ist). Vom linken Uferrand beugt sich Johannes herab, um Christus mit der Geste des Handauflegens zu taufen. Am anderen Ufer neigen sich vier Engel mit ehrfürchtig verhüllten Händen vor dem Sohn Gottes, über dessen Haupt die aus dem Himmelsegment herabfliegende Taube als Symbol des Heiligen Geistes schwebt.
Die verhüllten Hände der Engel gehen auf eine antike Verehrungspraxis zurück, die im byzantinischen Hofzeremoniell fortgeführt wurde: Würdenträger und Gesandte mussten mit verhüllten Händen vor den Herrscher treten, um dessen geheiligte Person nicht zu beflecken – besonders dann, wenn etwas empfangen oder übergeben wurde. Sehr schön nachvollziehen lässt sich diese Praxis auf einem Mosaik in Sant' Apollinare Nuovo in Ravenna, auf dem die drei Weisen aus dem Morgenland auf die vom himmlischen Hofstaat umgebene, thronende Muttergottes mit Kind zuschreiten: Zwei von ihnen bringen ihre Gaben mit verhüllten Händen dar (Bild 2). Manchmal werden die Tücher über den Händen der Engel auch als Handtücher interpretiert, mit denen sich Christus abtrocknen sollte. Als solche wurden sie vor allem in der westlichen Kunst öfter dargestellt, alternativ auch als Gewänder Christi. Als (willkürlich gewähltes) Beispiel dient hier ein ostfriesischer Taufstein aus dem 13. Jahrhundert im Ostfriesischen Landesmuseum Emden (Bild 3). Bekannter ist ein Gemälde der Taufe Christi von Andrea del Verrocchio, an dem auch Leonardo da Vinci mitwirkte (2. Hälfte 15. Jahrhundert).
In den Fluten zu Füßen Christi sind Fische, die auf einem Seeungeheuer reitende Personifikation des Meeres sowie die des Jordan in Gestalt eines antiken Flussgottes mit einem Krug in der Hand wiedergegeben, was ebenfalls antike, vorchristliche Traditionen weiterführt. In Psalm 114 (113 nach Septuaginta-Zählung) heißt es:
„Als Israel aus Ägypten auszog, das Haus Jakobs aus dem Volk mit fremder Sprache, da wurde Juda sein Heiligtum, Israel das Gebiet seiner Herrschaft. Das Meer sah es und flüchtete, der Jordan wandte sich rückwärts (...). Was ist mit dir, du Meer, dass du flüchtest, du Jordan, dass du rückwärts dich wendest (...)? Vor dem Angesicht des Herrn tanze, du Erde, vor dem Angesicht des Gottes Jakobs, der den Fels zum Wasserteich wandelt, Kieselgestein zu quellendem Wasser.“
Während die Meeresgestalt tatsächlich zu fliehen scheint, wird der sich abwendende Jordan von Christus gesegnet. In einem liturgischen Gesang des frühmorgendlichen Gottesdienstes am Ostertag heißt es, dass Christus in den Jordan stieg, um das Wasser zu heiligen, was erneut auf den Beginn des Erlösungswerkes verweist (in diesem Hymnus werden auch die Engel erwähnt, die in den Evangelienberichten nicht auftauchen). Noch heute wird in den orthodoxen Kirchen am 6. Januar das Fest der Wasserweihe begangen. Der Zelebrant wirft zum Abschluss ein Kreuz ins Wasser, nach dem die Männer tauchen (Bild 4). Demjenigen, der das Kreuz schließlich aus dem Wasser holt, soll ein besonders glückliches Jahr bevorstehen. Nach wie vor ist dies traditionell Männern vorbehalten, was in einem aktuellen mazedonischen Film problematisiert wird („Gott existiert, ihr Name ist Petrunya“, 2019, siehe jip-film.de/gott-existiert-ihr-name-ist-petrunya/ - Danke an Florin Filimon für den Hinweis).
Zurück zur Ikone: Johannes der Täufer trägt als Wüstenbewohner unter seinem Mantel ein hier hellblaues Gewand aus Kamelhaaren, woran er stets gut zu erkennen ist. Die Axt zwischen den Zweigen des kleinen Baumes zu seinen Füßen versinnbildlicht die an seine Täuflinge gerichtete Mahnung (Matth 3:10): „Schon ist die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt; jeder Baum, der keine gute Frucht hervorbringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen.“
Soweit zu den ikonographischen Details. Bei dem hier gezeigten Exponat handelt es sich um eine melkitische Ikone aus dem 18. Jahrhundert. Der aus dem Aramäischen stammende Begriff „melkitisch“ bezeichnet etwas königliches, zu einem Herrscher oder Reich gehöriges; er meint hier die Christen des Orients, die sich zum Konzil von Chalkedon (451) bekannten und sich als Untertanen des byzantinischen Kaiser verstanden, während die miaphysitischen Christen das Konzil ablehnten und eine eigene, vom byzantinischen Reich unabhängige Kirche etablierten. Typisch für die Herkunft der Ikone aus dem Nahen Osten ist der griechisch geschriebene Titel „Die Taufe Christi“ und eine arabische Stifterinschrift aus dem Jahr 1900 auf der Rückseite, die den Ort Zahlé im Libanon erwähnt. Ebenso charakteristisch für melkitische Ikonen sind die feinen Rankenornamente auf dem Hintergrund und der abwechselnd auf schwarzem und weißem Grund mit Ranken geschmückte Rand.
Die Ikone kann aus stilistischen Gründen dem Maler Girgis Al-Musawwir aus Aleppo zugeschrieben werden, aus dessen Familie zwischen 1650 und dem Ende des 18. Jahrhunderts über vier Generationen hinweg bekannte Ikonenmaler stammten. Eine fast identische Ikone der Taufe Christi aus seiner Hand befindet sich in der Sammlung „Naji und Hoda Skaff“ und war z. B. in der Ausstellung „Chrétiens d'Orient: 2000 ans d'histoire“ (26. September 2017 bis 14. Januar 2018, L’Institut du Monde Arabe, Paris) zu sehen. Der sehr schöne Katalog dieser Ausstellung ist u. a. hier erhältlich:
https://www.imarabe.org/fr/boutique/produit/chretiens-d-orient-2000-ans-d-histoire
Bildnachweise:
Bild 1: Ikonen-Museum Recklinghausen
Bild 2: WikiCommons
Bild 3: Ostfriesisches Landesmuseum Emden, private Aufnahme
Bild 4: „Greece is Mykonos“ Bd. 1, 2016, S. 92. Quelle: Panayiotis Kousathanas, „Mykonos, a Photographic Memento, Bd. 1 (1885-1950)”.
Lukas malt die Ikone der Muttergottes von Kykkos
Zypern, 18. Jhd., Eitempera auf Holz, 36 x 23,5 cm (Inv.-Nr. 56)
Der 26. Dezember ist in Russland der Gedankentag der Kykkotissa oder Kikkskaja - der Ikone der Gottesmutter vom Kykkos-Kloster, das sich im Troodos-Gebirge auf Zypern befindet. Das ist ein geeigneter Anlass, Ihnen die in der Sammlung des Museums befindliche Ikone „Lukas malt die Ikone der Muttergottes von Kykkos“ zu präsentieren. Das Motiv des Evangelisten und Apostels Lukas ist unseren Lesern schon bekannt – die Monatsikone vom Oktober 2019 zeigte ihn beim Malen der Ikone der Muttergottes Hodegetria.
Der Legende nach wurde auch diese Ikone vom Apostel Lukas gemalt und mit anderen Ikonen nach Ägypten geschickt. Während des byzantinischen Bilderstreits sollte sie per Schiff in Sicherheit gebracht werden – doch Sarazenen kaperten das Schiff und raubten die Ikone, die aber schließlich von den Griechen gerettet werden konnte. Ab 980 wurde sie im kaiserlichen Palast in Konstantinopel aufbewahrt. Nach Zypern gelangte sie demnach während der Regierungszeit des byzantinischen Kaisers Alexios I. Komnenos (1081–1118). Als Dank für die Heilung seiner Tochter stiftete er das Kykkos-Kloster und soll ihm die wertvolle Muttergottesikone geschenkt haben. Als kaiserliche Stiftung war das Kloster entsprechend reich ausgestattet, wurde zu einem der wichtigsten Klöster der orthodoxen Welt (mit Landbesitz in Kleinasien und später sogar in Russland) und ist einer der meistbesuchten Orte Zyperns.
Die Ikone befindet sich bis heute in der Ikonostase der Klosterkirche – verborgen unter einer Silberverkleidung und verhüllenden Tüchern. Nach ihrem Aufbewahrungsort wird sie als „Muttergottes von Kykkos“ bzw. „vom Kykkos-Kloster“ bezeichnet. Aufgrund der ihr zugeschriebenen Wunder wurde sie häufig kopiert und zog zahlreiche Pilger an; selbst Muslime sollen die Ikone verehrt haben.
Unsere Ikone war ursprünglich die mittlere Tafel eines Triptychons. Die Ikonographie folgt dem Typus der Eleousa („Die Barmherzige“, griech.). Dieser Ikonentypus betont die mütterliche Nähe Marias zu ihrem Sohn sowie die volle Menschlichkeit Christi, der menschliche Regungen zeigt. Maria hält mit der rechten Hand die Hand des sich rührenden Kindes. Christus hat eine Schriftrolle in der rechten Hand. Der griechische Text zitiert Lukas 4,18 bzw. Jesaja 61,1: „Der Geist des Herrn ruht auf mir, denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe.“ Mit der linken Hand greift Christus nach dem in Wellen herabhängenden Kopfschleier Marias. Charakteristisch ist das Strampeln des sich in den Armen seiner Mutter windenden Christus, der „ungeduldig“ die Passion anstrebt. Auch die traurigen Blicke von Mutter und Kind, in die gleiche Richtung außerhalb des Bildes gerichtet, weisen auf die Bestimmung Christi hin. Die beiden Engel zu Seiten des Kopfes Marias begegnen schon im 12. Jahrhundert, die Bekrönung Marias ist indes eine spätere Erscheinung nach westlichem Vorbild. Der wesentlich kleiner wiedergegebene Lukas steht neben den beiden Figuren und vollendet sein Werk mit einem letzten Pinselstrich.
Text: Marina Vitchenko
Muttergottes von Kasan
Russland, Mitte 17. Jahrhundert, Eitempera auf Holz, 31,8 x 27,0 cm
Nachlass Gabriele von Horn, Bad Salzdetfurth 2018 (Inv.-Nr. 4075)
Die Ikone der Gottesmutter von Kazan oder Kazanskaja ist eine der berühmtesten Ikonen Russlands, die an zwei Gedenktagen offiziell verehrt wird: Am 8. Juli, dem Tag ihrer wundersamen Auffindung, und am 4. November (22. Oktober nach julianischem Kalender). An diesem Tag gedenkt man der Befreiung Moskaus im Jahr 1612 von polnisch-litauischen Truppen mithilfe der wundertätigen Ikone.
Der Legende nach erschien die Gottesmutter einem Mädchen namens Matrona in der Stadt Kazan kurz nach der Eroberung der Stadt durch die Armee des Zaren im Juni 1579 und teilte ihr den Ort mit, an dem die Ikone zu finden sei. Sie wurde in einem niedergebrannten Haus entdeckt, wo sie während der Tatarenherrschaft über die Stadt versteckt gehalten worden sein soll. Der Brand hatte die in ein Tuch gewickelte Ikone nicht beschädigt. Sogleich kam es zur wundersamen Heilung eines Blinden durch die Ikone, die daraufhin in einer feierlichen Prozession in die Verkündigungskathedrale von Kazan gebracht wurde. Hier geschah ein zweites Heilungswunder. Als der Zar Ivan IV. („der Schreckliche“) über die wundertätige Ikone informiert wurde, befahl er den Bau einer Kirche und eines Frauenklosters am Ort ihrer Auffindung.
Nach dem Tod von Ivans Sohn und Nachfolger Feodor I. im Jahr 1598 begann in Russland eine Zeit der Wirren (russ. Smuta), die erst mit dem Herrschaftsantritt des ersten Zaren aus der Romanov-Familie 1613 endete. Moskau wurde 1605 von einem polnisch-litauischen Heer besetzt. Am 4. November gelang es einem von den beiden Nationalhelden Kozma Minin und Fürst Dmitrij Požarskij angeführten russischen Aufgebot, die Hauptstadt zurückzuerobern. Eine große Rolle wurde dabei der Ikone der Muttergottes von Kazan zugeschrieben, die das russische Heer begleitete. In den folgenden Jahrhunderten blieb sie im religiösen, aber auch politischen Leben Russlands stets von großer Bedeutung. Über ihr Schicksal gibt es widersprüchliche Überlieferungen, sie gilt heute als verschollen. Das Ikonen-Museum besitzt mehrere Kopien des Gnadenbildes.
Die nur in Russland bekannte Ikonographie zeigt das Brustbild der Muttergottes nur bis zum Schulteransatz. Sie neigt ihren Kopf Christus zu, der an ihrer linken Seite aufrecht steht und die rechte Hand segnend erhebt, während die linke durch sein Gewand verdeckt ist.
Text: Marina Vitchenko
Lukas malt die Ikone der Gottesmutter Hodegetria
Byzanz, Anfang 15. Jh. Eitempera auf Holz, 26,4 x 18,3 cm
Ikonen-Museum Recklinghausen (Inv.-Nr. 424)
Der heilige Lukas wird am 18. Oktober verehrt. Er ist bekannt als einer der vier Evangelisten, Autor der Apostelgeschichte und einer der 70 Apostel, die von Christus ausgesandt wurden um seine Botschaft zu verkünden. Weiterhin gilt er als der erste Ikonenmaler, was auf unserer Ikone dargestellt ist. Sie wird auf den Anfang des 15. Jahrhunderts datiert. Es dürfte es sich um die früheste erhaltene Wiedergabe des Themas auf einer Ikone handeln, wo es generell nur selten anzutreffen ist (die ältesten Darstellungen sind zwei byzantinische Handschriften-illustrationen aus dem 13. Jahrhundert). Forschungen von Frau Dr. Eva Haustein-Bartsch ergaben, dass die Ikone Teil eines Polyptychons war, welches mindestens acht Darstellungen enthielt. Es wurde 1963 in seine Einzelteile zerschnitten, von denen einige in verschiedenen Museen identifiziert werden konnten.
Unsere Ikone zeigt Lukas auf einem Stuhl sitzend, wie er die Ikone der Muttergottes mit dem Jesuskind vollendet. Er soll das Bild noch zu Lebzeiten der Muttergottes gemalt haben. „Die Gnade dessen, der geboren wurde durch mich, sei mit diesem Bild“ soll sie freudig gesagt haben, als sie das Bild sah. Diese Legende wird erstmals im 8. Jahrhundert erwähnt, kurz vor Beginn der unter dem Begriff „Ikonoklasmus“ gefassten Auseinandersetzung um die Bilderverehrung in Byzanz. Legenden über die Existenz originaler Porträts von Christus und der Gottesmutter spielten in dieser Auseinandersetzung eine wichtige Rolle: Wenn Christus selbst einen Tuchabdruck seines Gesichts hervorbrachte (das Mandylion, siehe Ikone des Monats August) und die Gottesmutter sich von Lukas malen ließ und die Ikone sogar segnete, war eigentlich kein Widerspruch mehr gegen die Ikonenmalerei und –verehrung möglich. Aus diesem Grund ist Lukas auch der Schutzheilige der Ikonenmalerinnen und -maler.
Die von Lukas gemalte Ikone ist die der Hodegetria, die im Hodegon-Kloster von Konstantinopel verehrt wurde und 1453 bei der Eroberung der Stadt durch die Osmanen zerstört wurde. Der Legende nach fertigte Lukas mehrere Porträts der Gottesmutter an, so dass neben der in Kopien fortlebenden Hodegetria weitere Ikonen als Lukasbild verehrt werden. Dazu gehören die Ikone der Gottesmutter von Vladimir (siehe Ikone des Monats Juni) und die unter dem Titel „Salus Populi Romani“ bekannte Ikone, die sich in der Kirche Santa Maria Maggiore in Rom befindet.
Text: Anika Richter
Muttergottes „Unverbrennbarer Dornbusch“
Russland, 17. Jh., Eitempera auf Holz, 31 x 28 cm
Ikonen-Museum Recklinghausen (Inv.-Nr. 325)
Der 4. September ist der Tag, an dem die orthodoxe Kirche die Ikone der Muttergottes „Unverbrennbarer Dornbusch“ verehrt. Die Textvorlagen für dieses Motiv liegen im Alten Testament, in Hymnen und in apokryphen Texten. Schon von den Kirchenvätern wurde die Muttergottes wird mit dem Dornbusch verglichen, aus dem Gott auf dem Berg Horeb zu Mose sprach. Der Dornbusch brennt zwar, doch verbrennt er nicht. Die Ikone setzt die typologische Interpretation dieses Ereignisses ins Bild. In ihr hat sich das Feuer, welches Gott ist, niedergelassen. Doch bleibt sie ebenso wie der Busch, unversehrt: Das Motiv verdeutlicht die Jungfräulichkeit der Gottesmutter.
Auf russischen Ikonen wird dieser Vergleich in zahlreichen Details und kleinen Szenen ins Bild gesetzt. Im Zentrum befindet sich die Gottesmutter mit dem Kind. Vor ihrer Brust erscheint Christus erneut in einer Miniatur des himmlischen Jerusalem, ihre rechte Hand liegt über einer Leiter. Nach dem bekannten Hymnus Akathistos (griech. „nicht-sitzend“, d. h. im Stehen gesungen) war Maria die Leiter, auf der Christus zur Erde hinabstieg. Die gekrönte rote Figur unterhalb ihrer rechten Schulter ist ebenfalls Christus in Gestalt der Sophia, der göttlichen Weisheit.
Die sternförmige, achteckige Struktur weist auf den achten Tag der Schöpfung hin, den Sonntag, der als achter Tag der Woche und gleichzeitig Beginn der neuen Woche gezählt sowie als Tag der Wiederauferstehung gefeiert wird. Das vordere Viereck in grün kann als Symbol für den Dornbusch gesehen werden, das rote Viereck symbolisiert analog dazu das Feuer. Die Gottesmutter ist umgeben von den Evangelistensymbolen und zahlreichen Engeln, die durch die Inschriften als Mächte verschiedener Naturphänomene (Feuer, Sturm, Nebel, Wolken, Frost u. a.), aber auch Engel der Rache, der Weisheit und der Vernunft bezeichnet werden. Die Vorstellung von Engeln als „Naturgeister“ findet sich an vielen Stellen im Alten Testament ( z. B. Ps 103), wichtig ist hier auch das pseudepigraphische, d. h. nicht zum Kanon des Alten Testaments gezählte Buch der Jubiläen (2. Kapitel).
In der oberen linken Ecke ist Mose mit dem brennenden Dornbusch zu sehen, in dem die Gottesmutter des Zeichens erscheint. Rechts oben wird die Wurzel Jesse oder wie hier der Prophet Jesaja gezeigt. Unten links wird die Vision des Propheten Ezechiel vom Gottestor des himmlischen Jerusalem gezeigt (Ez 44:1-2), unten rechts der Traum Jakobs von der Himmelsleiter (Gen 28:12), beides erneut auf die Jungfrauengeburt hinweisende Typologien. Bei der liegenden Gestalt in der Mitte unten handelt es sich um eine auf den liegenden Stammvater reduzierte Darstellung der Wurzel Jesse.
Ikonen mit dem Unverbrennbaren Dornbusch wird die Fähigkeit zugesprochen, wundersam vor Feuer zu schützen oder dieses zu löschen. Bei Hausbränden wird die Ikone von den Gläubigen in Richtung des Feuers gehalten, in der Hoffnung, dass die Flammen nachlassen und das Gebäude intakt bleibt.
Text: Anika Richter
Das nicht von Menschenhand gemachte Porträt Christi
Mandylion
Weißrussland (Vetka?), um 1800
Eitempera auf Holz, 76,5 x 60,5 cm
Erworben 1965 aus der Sammlung
Prof. Dr. Martin Winkler
(Inv.-Nr. 630)
Die orthodoxe Kirche feiert am 16. August das Heilige Mandylion, das an diesem Tag im Jahr 944 in Konstantinopel eintraf. Das Abgarbild, wie das Mandylion auch genannt wird, ist die wohl wichtigste Ikone in der christlichen Geschichte. Denn sie zeigt das Abbild Christi, welches er selbst auf einem Tuch erzeugt haben soll. Der Name Mandylion ist dem arabischen mandil oder mindil entlehnt, was Tuch bedeutet.
Der Legende nach drückte Christus sich ein Tuch auf sein Gesicht, als er von der schweren Krankheit des Königs Abgar V. von Edessa erfuhr, ihn jedoch nicht selbst besuchen konnte. Auf wundersame Weise entstand auf dem Stoff ein Abdruck des Gesichtes Christi. Er ließ das Tuch zu Abgar schicken, der beim Empfang des Mandylions von seiner Krankheit geheilt wurde. Danach soll das Tuch über dem Stadttor Edessas eingemauert worden sein, wo es bis zum 6. Jahrhundert blieb und in Vergessenheit geriet. Während eines persischen Angriffs auf die Stadt wurde es wiederentdeckt und soll die Rettung der Stadt vor den Persern bewirkt haben. Doch nicht nur das – der Abdruck auf dem Tuch hatte einen weiteren Abdruck auf einem Ziegelstein hinterlassen. Dies unterstützte den Glauben an die Echtheit und Wunderkraft des Tuchs. Der Abdruck auf dem Stein wurde selbst zur Ikone, die als Keramidion bekannt ist.
Am 16. August 944 wurde das Mandylion nach Konstantinopel gebracht und in einer Palastkapelle als Reichspalladion verwahrt. Es verschwand im Jahr 1204 im Zuge der Plünderung Konstantinopels durch den Vierten Kreuzzug.
Auch wenn in den folgenden Jahrhunderten mehrere Mandylia als Original bezeichnet und verehrt wurden, ist nicht einwandfrei gesichert, wo sich das erste Mandylion befindet oder ob es überhaupt noch existiert. Zwei Ikonen, eine im Vatikan, eine weitere in Genua, zeigen einen sehr frühen Darstellungsstil, der sich möglicherweise am Original orientiert haben kann. Die neuere Forschung hält es außerdem für möglich, dass es sich bei dem sogenannten Schleier von Manoppello (Volto Santo) um das ursprüngliche Mandylion handeln könnte.
Doch nicht nur seine Legende und die turbulente Geschichte machen das Mandylion zu einer der wichtigsten Ikonen. Als erstes Bild, das „nicht von Menschenhand geschaffen“ war, stellt es den Archetypus dieser Art Ikone dar und hob das Bilderverbot auf, das im Alten Testament ausgesprochen wurde und um das lange Zeit gestritten wurde. Somit gilt das Mandylion als die erste und definitive Legitimation der Ikonendarstellungen von Christus, Gott und Heiligen.
Das Ikonen-Museum Recklinghausen besitzt mehrere wichtige Ikonen des Mandylions, eine besonders schöne (Abb. 1) wird auf die Zeit um 1800 datiert und stammt wohl aus Weißrussland. Das Gesicht Christi wird ohne Hals und Schulteransatz auf einem reich verzierten Tuch dargestellt. Die Haare sind mittig gescheitelt und fallen zu beiden Seiten des Gesichts hinab. Aus Sicht des Betrachters enden sie links in zwei lockig gewundenen Haarsträhnen, rechts in deren drei. Bei genauerem Hinsehen erkennt man, dass hier die dritte, mittlere Strähne nachträglich ergänzt wurde. Diese Aufteilung der Haarsträhnen Christi begegnet auf Ikonen ab dem 17. Jahrhundert häufiger. Grundlage dürfte die christliche Zahlensymbolik gewesen sein: Die Zahl Zwei steht für die göttliche und menschliche Natur in Christus, die Drei für die Dreifaltigkeit.
In Jerusalem wird an der sechsten Station der Via Dolorosa eine Replik dieses Mandylions ausgestellt (Abb. 2). Der Zusammenhang zwischen dem Mandylion und der Station, Santa Veronica, erschließt sich aus der ganz ähnlichen Entstehungslegende des Schweißtuches der heiligen Veronika, welches an der Stelle verehrt wird. Es heißt, Christus habe seinen Abdruck auf einem Tuch hinterlassen, welches ihm von der heiligen Veronika auf seinem Weg zur Kreuzigung gereicht wurde, um sich Blut und Wasser vom Gesicht zu wischen. Die beiden Überlieferungen wurden häufig vermischt, einige (späte) Mandylion-Ikonen zeigen sogar als Randszene die Begegnung Christi mit Veronika.
Zur Feier des Festtags des Mandylions am 16. August sowie anlässlich der Eröffnung der Mandylion-Ausstellung im Ikonen-Museum Recklinghausen am 17. August ist das Mandylion unsere „Ikone des Monats“.
(Text: Anika Richter)
Heilige Marina
Iosif Andreevič Pankryšov
(1859–nach 1921)
Russland(Mstera), 1892
Eitempera auf Holz, 26,5 x 22,5 cm
Erworben 2018 (Inv.-Nr. 4089)
Die hl. Großmärtyrerin Marina von Antiochia (ca. 289–305), die im Westen als hl. Margareta bekannt ist und zu den 14 Nothelfern zählt, wird nur selten auf Ikonen dargestellt. Sie steht in einer wunderschön gemalten Berglandschaft mit Kirchengebäuden und Holzhäusern und wendet sich im Gebet der Heiligen Dreifaltigkeit in der oberen linken Bildecke zu. In der orthodoxen Kirche wird sie am 17. Juli verehrt.
Über ihr Leben existieren mehrere teils voneinander abweichende Überlieferungen. So soll sie die Tochter eines heidnischen Priesters gewesen sein, die von einer christlichen Amme zum Glauben erzogen wurde; als dies bekannt wurde, ließ der Stadtpräfekt sie martern und enthaupten. Er verhielt sich besonders grausam, weil er die junge Frau begehrte und von ihr abgewiesen wurde. Nach einer anderen Tradition habe der Stadtpräfekt Marina Schafe hüten sehen und begehrte sie daraufhin; weil sie standhaft blieb, ordnete er ihre Folterung an, ließ sie einkerkern und später hinrichten. Im Gefängnis soll sie von einem Drachen verschlungen worden sei, den sie durch das Kreuzzeichen zum Bersten gebracht habe; als ihr dann der Teufel erschien, bezwang sie ihn ebenfalls. Auf Fresken und seltener auf Ikonen sieht man sie manchmal, wie sie den Teufel am Haarschopf packt und mit einem Hammer schlägt.
Nicht nur die qualitätsvolle Malerei und das seltene Motiv machen diese Ikone so einzigartig, sie ist weiterhin datiert und mit einer Malersignatur versehen. Ikonen wurden in Russland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum großen Teil in Malerwerkstätten hergestellt, die in jeder Stadt, vielen Dörfern und den meisten Klöstern zu finden waren. Berühmt sind die Malerdörfer Palech, Choluj und Mstera östlich von Moskau, in denen nahezu die gesamte Bevölkerung damit beschäftigt war, die große Nachfrage an Ikonen in der Bevölkerung zu befriedigen. Viele Werkstätten entwickelten sich zu regelrechten Manufakturbetrieben, in denen ein Dutzend und mehr Mitarbeiter in standardisierte Arbeitsabläufe eingebunden waren und in kurzer Zeit wenn nötig Dutzende oder hunderte Ikonen anfertigten. Die Qualität hing vom Können des Meisters einer Werkstatt ab und vom Preis, neben Billigware für den Massenmarkt konnte man auch weiterhin hervorragend gemalte Ikonen erwerben. Ikonen wurden von den Meistern dieser Werkstätten nun auch häufiger signiert und datiert, was in früherer Zeit eine absolute Ausnahme war. Ihr Selbstverständnis hatte sich gewandelt: Galten die Ikonenmaler früher als persönlich unwichtige, von Gott gelenkte Instrumente zur Verkündung göttlicher Wahrheit, zeigten sie sich nun als individuelle Künstlerpersönlichkeiten und traten selbstbewusst in der Gesellschaft in Erscheinung.
Die Ikone der hl. Marina ist unten auf der Vorderseite von Iosif Pankryšov signiert. Auf der Rückseite befindet sich der Stempel seiner 1872 gegründeten Werkstatt. Er wurde 1859 in Mstera geboren und übernahm im Alter von 21 Jahren die Ikonenwerkstatt seines Vaters. Wegen der großen Konkurrenz in Mstera übersiedelte er nach Sibirien, wo er am 16. August 1898 seine Werkstatt in Tomsk eröffnete, großen Erfolg hatte und große Anerkennung auch in höchsten Kreisen fand. Nach der Oktoberrevolution wurde seine Werkstatt geschlossen. Die Ikone ist in einem blauen Medaillon mit kyrillischen Buchstaben in der Mitte des unteren Randes datiert, und zwar auf den 28. Februar 1892. Die Ikone von herausragender Qualität ist also in mehrfacher Hinsicht äußerst aufschlussreich und ein wahres Prachtstück der Sammlung des Ikonen-Museums.
Die Muttergottes von Vladimir
Am 23.6. feiert die russisch-orthodoxe Kirche das Fest der Ikone der Gottesmutter von Vladimir (weitere Feiertage sind der 21.5. und 26.8), der wohl berühmtesten Gottesmutterikone Russlands. Ihr Ehrentitel „Mutter der russischen Erde“ weist auf ihren engen Zusammenhang mit der russischen Geschichte hin, die sie über Jahrhunderte begleitete und beeinflusst haben soll. Bei der Ikone handelt es sich um eine ursprünglich byzantinische Arbeit, die im frühen 12. Jahrhundert in Konstantinopel gemalt wurde und zwischen 1131 und 1136 als Geschenk des Patriarchen nach Kiew gebracht wurde. Der späteren Legende nach soll sie vom Evangelisten Lukas noch zu Lebzeiten Marias gemalt worden sein, die dem Bild ihren Segen gab (diese „Lukasbilder“ dienten als eine der wichtigsten Begründungen christlicher Bilderverehrung). 1155 überführte Fürst Andrej von Bogoljubovo die Ikone nach Vladimir, das sich unter seiner Herrschaft zum neuen kulturellen, religiösen und politischen Zentrum Russlands entwickelte und der Ikone ihren Namen gab. Seit 1300 residierte auch der Metropolit von Kiev in Vladimir. 1395 brachte man die Ikone erstmals nach Moskau, wo ein drohender mongolischer Angriff durch ihr Eingreifen abgewendet worden sein soll; ein ähnliches Wunder schrieb man ihr im Jahr 1480 zu, als sie endgültig nach Moskau überführt wurde und die Stadt erneut vor einem tatarischen Heer gerettet haben soll (diesem Ereignis gedenkt man am 23.6.). Bis 1917 blieb die Ikone in der Ikonostase der Mariä-Entschlafen-Kathedrale des Kreml, wo nicht nur die russischen Zaren gekrönt, sondern auch die russischen Patriarchen (seit 1589) eingesetzt wurden. Heute befindet sie sich in der Tretjakov-Galerie (Bild 1).
Die Vladimirskaja entspricht dem Typus der Eleousa (griech. "die Barmherzige") bzw. Umilenie (russ.), der im 11. Jahrhundert in Byzanz entstand. Von der jetzt sichtbaren Malschicht sind lediglich die Gesichter noch weitgehend original erhalten, alle anderen Partien wurden teils mehrfach übermalt – unter anderem durch den berühmten Andrej Rublëv, der sie um 1411 noch in Vladimir erneuerte.
Als wundertätige Ikone wurde die Vladimirskaja unzählige Male kopiert (als sogenannte „authentische Kopie“, welche an der Wirkkraft des Urbildes teilhatte). Auch im Ikonen-Museum befinden sich einige Kopien, die schönste davon stammt aus Moskau und entstand Ende des 15. Jahrhunderts (Bild 2). Die Recklinghäuser Ikone folgt ihrem berühmten Vorbild und zeigt wie dieses das Christuskind auf dem rechten Arm der Mutter sitzend, die ihre Wange an den Kopf des Kindes schmiegt. Christus hat den linken Arm um ihren Hals geschlungen, die rechte Hand hält er ausgestreckt. Maria hat die linke Hand vor ihre Brust erhoben.
Im Depot des Museums befindet sich als weitere Vladimirskaja eine wunderschöne Stickarbeit (Bild 3), die wahrscheinlich als Podea (griech.) bzw. Pelena (russ.) diente, ein meist aufwendig besticktes Tuch, dass als Schmuck unterhalb einer zur Verehrung aufgestellten Ikone aufgehängt wurde. Das Bild wurde zu einem nicht genau bestimmbaren Zeitpunkt auf den Hintergrundstoff aus Seidenbrokat appliziert, der heutige Zustand entspricht also nicht mehr dem Original. Dennoch verbindet das Stück die Kostbarkeit der verwendeten Materialien mit schlichter Eleganz und Würde zu einem aufs Wesentliche reduzierten, harmonischen Gesamteindruck.
Aktuell ist im Musée du Louvre von Paris eine sehr sehenswerte Ausstellung gestickter liturgischer Stoffe aus Rumänien zu sehen (noch bis zum 29. Juli):
An der begleitenden Tagung am 29.5. war auch das Ikonen-Museum Recklinghausen mit einem Vortrag beteiligt.
Eine Ikone mit politischer Botschaft
Hl. Isaakios vom Dalmatos-Kloster
Russland, nach 1861
Eitempera auf Holz, 51,5 x 43,0 cm
Erworben 2016 (Inv. Nr. 3968)
Im Zentrum der Ikone ist der Hl. Isaakios vom Dalmatos-Kloster in Konstantinopel gemalt, der im 4. Jahrhundert lebte und sich gegen die Häresie der Arianer engagierte. Insbesondere soll er dem arianischen Kaiser Valens beim Auszug aus Konstantinopel seinen Untergang und Tod in der Schlacht von Adrianopel gegen die Goten im Jahr 378 prophezeit haben. Dessen Nachfolger Theodosius I. stärkte die Orthodoxie und bat den aus Syrien stammenden Isaakios, in Konstantinopel zu bleiben, wo er 381 das Dalmatos-Kloster gründete (benannt nach einem Schüler des Isaakios, der ihm als Abt nachfolgte). Sein Gedenktag (30. Mai) war der Geburtstag des russischen Zaren Peter der Große, der ihn deshalb zum Patron der Romanov-Dynastie bestimmte und ihm zu Ehren in St. Petersburg die berühmte Isaakij-Kathedrale bauen ließ. Ein weiterer Gedenktag ist der 3. August.
In den oberen Ecken sind zwei „Nebenikonen“ eingefügt: links Christus mit dem Abendmahlskelch, rechts die „Muttergottes Unerwartete Freude“. Dieses Motiv stellt ein Wunder dar, das sich vor einer Muttergottes-Ikone in Černigov ereignet haben soll. Beschrieben wird es vom Hl. Dimitrij von Rostov in seinem Werk „Das benetzte Vlies“, sein Bericht ist in dem weißen Textfeld zu lesen. Demnach betete ein gesetzloser Mann täglich vor besagter Ikone und sah eines Tages mit Schrecken, dass sich Mutter und Kind bewegten und aus Händen und Füßen des Kindes Blut strömte. Die Gottesmutter redete dem Mann ins Gewissen, der daraufhin seine Sünden einsah und bereute. Der Dialog zwischen Gottesmutter und Beter ist durch zwei zwischen den Figuren platzierte Textlinien wiedergegeben. Ikonen dieses Typus entstanden erst im 19. Jahrhundert und erfreuten sich großer Beliebtheit. Das Fest dieser Ikone begeht die russisch-orthodoxe Kirche am 1. Mai.
Isaakios ist im zentralen Bildfeld als Halbfigur im Mönchsgewand zu sehen und weist mit seiner rechten Hand auf die Schriftrolle, die er mit der linken Hand hält. Dort steht geschrieben:
„Sorgt euch nicht, meine Brüder, sondern bedenkt, wenn denn das Werk meiner Mühen Gott wohlgefällig sein wird, so wird dieser heilige Ort nicht schwinden, sondern sich erweitern nach meinem Hinscheiden...“
(Übers.: Dr. Jean-Paul Deschler, Basel)
Besonders interessant ist die lange Inschrift in der Kartusche unten, in der die Abschaffung der Leibeigenschaft durch den Zaren Aleksander II. am 3. August 1861 gefeiert wird (sie ist nicht in Gänze zu entziffern):
„Im Jahr 1861, am dritten August, dem Tag des ehrwürdigen Isaakios vom Dalmatos-Kloster, des Wundertäters, erklärten uns Gott und unser Herrscher, Kaiser Aleksander II., die Freiheit. Mit Lichtern feiere also das ... Geschenk, die himmlische Gnade. Der ... Mund singt dir einen gebührenden Hymnus, Vorbote des mit dem Himmel ankommenden Königs. ... im Tempel der Natur ... und es fliegt der dankbare Ruf unter der Himmelswölbung, inmitten der Rufe der ... Natur. Gebet, Ruhm und Lob sei dem Herrn des Erdkreises an diesem prachtvollen Tag der gewonnenen Freiheit vom Joch der Leibeigenschaft ... die Gebete senden zum Himmel, das erste im Gedenken an den frommen Fürsten Aleksander (Nevskij), einst unbesiegbar ... der Wahrheit und der Frömmigkeit, das zweite zur Feier des Namenstags des gesegneten Gesalbten Autokrators, unseres allerfrömmsten selbstherrschenden großen Herrn und Kaisers Aleksander Nikolaevič von Ganz Russland. Es lebe unser Car’, ... seine Kinder, ... Ehre und Ruhm.“
(Übersetzung: Dr. Jean-Paul Deschler, Basel)
Inschriften mit aktuellen historischen Bezügen sind auf Ikonen äußerst selten. Die Verkündung der Freilassung erfolgte nicht zufällig am 3. August, dem Gedenktag des Patrons der Dynastie, der aus diesem Grund auf der Ikone zu sehen ist. Der Text schlägt zudem den Bogen vom politischen und religiösen Helden Aleksandr Nevskij bis zu den „Großen Reformen“ des Zaren Aleksandr II. (1855–1881). Der enthusiastische Ton lässt darauf schließen, dass die Ikone unmittelbar nach der Aufhebung der Leibeigenschaft entstanden ist. Doch blieb diese Reform von oben halbherzig. Die Leibeigenen wurden zwar rechtlich frei, Eigentümer des von ihnen bewirtschafteten Landes war aber weiterhin der Gutsherr. Zwar bekamen die Bauern ein Anrecht darauf, ihr Land zu erwerben, mussten sich dafür aber in der Regel hoch verschulden. An den sozialen Verhältnissen änderte sich somit wenig: Der Gutsherr blieb reich, der Bauer arm. Die meisten Betroffenen machten allerdings nicht den Zaren, sondern die adligen Grundherren verantwortlich, die den wahren Willen des Zaren nicht umsetzen würden. Dazu passt der Lobpreis des Herrschers auf der Ikone. Nur langsam sickerte die Erkenntnis durch, dass die Bauern vom Zarenhaus nicht mehr zu erwarten hatten. Alles in allem löste diese Form der Freiheit allgemeine Enttäuschung aus.
In der Inschrift wird ausdrücklich gesagt, dass „Gott und unser Herrscher“ „uns“ die Freiheit erklärt haben. Die Ikone stellt somit eine Äußerung der eher selten zu Wort kommenden Bauern dar, die von der Reform profitieren sollten. Hat vielleicht eine Dorfgemeinschaft zusammengelegt, um die sehnsüchtig erwartete Freiheit mit der Stiftung einer wertvollen Ikone zu feiern? In jedem Fall handelt es sich bei der sehr qualitätsvollen Ikone auch um ein wichtiges Zeugnis für die sozialen Verhältnisse im Russischen Reich.
Die Verkündigung an Maria
Das Fest der Verkündigung (griech. euangelismos, russ. blagoveščenie) an Maria, das am 25. März – also genau neun Monate vor der Geburt Christi – gefeiert wird, gehörte schon früh zu den Hauptfesten der Kirche. Denn der Augenblick, in dem Maria dem Ratschluss Gottes zustimmte, aktiv an der Erlösung der Menschheit teilzunehmen, gilt als Augenblick der Inkarnation, der Menschwerdung Christi. So ist auf einer der frühesten russischen Verkündigungs-Ikonen aus Ustjug (13. Jhd., heute Tretjakov-Galerie, Moskau) das Jesuskind auf der Brust der Gottesmutter bereits zu sehen. Darstellungen der Verkündigung erschienen ab dem 5. Jahrhundert in größerer Zahl, nachdem Maria auf dem Konzil von Ephesos ausdrücklich als Theotokos (Gottesgebärerin) anerkannt worden war - z. B. zeigt ein Mosaik auf dem Triumphbogen von Santa Maria Maggiore in Rom die Verkündigung an die thronende Gottesmutter durch einen herabschwebenden Engel. Noch etwas früher wird die plastische Wiedergabe auf dem sog. Pignata-Sarkophag in Ravenna datiert.
Die Verkündigung wird nicht nur im kanonischen Lukas-Evangelium erzählt, sondern auch im sogenannten Protevangelium des Jakobus, einer apokryphen Schrift aus dem 2. Jahrhundert, die aber für die Glaubensvorstellungen, die Liturgie und die christliche Ikonographie sehr wichtig war. Als Maria eines Tages, während sie mit dem Spinnen von Purpur beschäftigt war, an einem Brunnen Wasser holen wollte, geschah nach diesem Text folgendes:
Und siehe, eine Stimme sprach: „Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr sei mit dir, du Gepriesene unter den Frauen!“ Und sie blickte sich um nach rechts und nach links, woher diese Stimme wohl käme. Und es kam sie ein Zittern an. Da ging sie heim in ihr Haus und stellte den Krug ab. Dann nahm sie den Purpur und setzte sich auf ihren Sessel und zog ihn zu Fäden, und siehe, ein Engel des Herrn trat vor sie hin und sprach: „Fürchte dich nicht, Maria! Denn du hast Gnade gefunden vor dem Gebieter über alles, und du sollst empfangen aus seinem Wort.“ Als sie das aber hörte, bekam sie bei sich Zweifel und sagte: „Soll ich empfangen vom lebendigen Gott her und gleichwohl gebären, wie jede Frau gebiert?“ und es sprach der Engel des Herrn: „Nicht so, Maria! Denn die Kraft des Herrn wird dich überschatten. Deswegen wird auch das, was von dir geboren wird, heilig, nämlich Sohn des Höchsten genannt werden. Und du sollst seinen Namen Jesus nennen; denn er wird sein Volk erretten von seinen Sünden.“ Und Maria sprach: „Siehe, des Herrn Magd will ich gern sein vor ihm; mir geschehe, wie du gesagt hast!“
Den Gruß des Erzengels Gabriels am Brunnen bezeichnet man als Vorverkündigung - Maria erschrickt, eilt zurück ins Haus (an dessen Stelle die Verkündigungs-Basilika errichtet wurde) und fährt fort, den Purpur zu spinnen (Purpur als Herrschafts-Farbe verweist bereits auf den kommenden König), worauf die eigentliche Verkündigung folgt. Darstellungen der Vorverkündigung sind relativ selten - zu den bekannteren Zeugnissen gehören Mosaiken in San Marco in Venedig und im Chora-Kloster in Istanbul.
Im Ikonen-Museum Recklinghausen gibt es beide Motive: Eine wunderschön gemalte Ikone vom Beginn des 20. Jahrhunderts (die allerdings wesentliche Grundzüge von Ikonen aus der Zeit etwa zwischen 1780 und 1840 übernimmt) aus Russland (wohl Mstera oder Palech) zeigt die Vorverkündigung am Brunnen. Die äußerst feine und detailreiche Malerei, die graziöse Haltung der Jungfrau Maria und die delikate und etwas kühle Farbgebung ergeben ein Bild von höchster poetischer Stimmung, wie es nur selten in der späten Ikonenmalerei zu finden ist.
Das Grundschema der Verkündigung im Haus ist auf einer schönen kretischen Ikone aus der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts gut zu erkennen, die vielleicht von dem berühmten Maler Andreas Ritzos (1421–1492) oder seinem Sohn Nikolaos (gest. vor 1507) gemalt wurde. Vor einer Architekturkulisse steht die Gottesmutter vor einem Sessel mit Sitzkissen. In der linken Hand erkennt man noch den Purpurfaden. Sie wendet sich dem dynamisch heranschreitenden Gabriel zu, der sie mit ausgestreckter Hand im Redegestus begrüßt, während er in der anderen Hand einen Botenstab hält. Die rechte Hand Marias ist in ihr Gewand eingewickelt – diese seltsame Haltung geht letzlich auf die Darstellung von Rhetoren in der antiken Kunst zurück, wo sie ein Zeichen wohlüberlegter Rede war (ein gutes Beispiel ist die Statue des Aischines aus der Villa dei Papiri in Herculaneum, heute im Archäologischen Nationalmuseum von Neapel). Durch das feste Umwickeln der Hand sollte verhindert werden, das begabte Redner – etwa bei Auftritten vor Gericht – sich zu emotionalen "großen Gesten" hinreißen ließen – allein durch wohlgesetzte Worte sollte ihr Auftritt überzeugen. Seit der sog. palaiologischen Renaissance (13./14. Jahrhundert), die in der kretischen Malerei fortlebte, ist sie bei Darstellungen von Aposteln und anderen Wortverkündern häufig anzutreffen. Hier drückt es die überlegte, demütig-zurückhaltende und doch beeindruckende Reaktion der Maria auf die Verkündigung des Engels aus.
Das ikonographische Grundschema des Motivs wurde nur in Details variiert. Zwischen den oberen Architekturelementen hängt oft ein Stoffstreifen, womit angedeutet wird, dass sich das Geschehen in einem Innenraum abspielt; häufig sitzt die Gottesmutter auf dem Sessel, manchmal hat sie den Körper leicht vom Erzengel weggedreht, dem sie aber auch dann immer den Kopf zuwendet (Ikone aus Novgorod, 15. Jahrhundert).
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